Stadtleben: Das Outing der Twitter-Oma
Eine 82-Jährige berichtet im Internet aus ihrem Alltag. 20 000 Menschen folgen. Doch nun hat ihr Schöpfer ein Buch geschrieben – und sich offenbart.
Seine Antworten sind festgezurrte Päckchen. Nur schwer ist Torsten Rohde dazu zu bringen, sie zu öffnen, ihnen etwas hinzuzufügen. Vielleicht gewöhnt man sich an, so zu kommunizieren, wenn man seit ein paar Jahren auf Twitter schreibt, wo Nachrichten aus höchstens 140 Zeichen bestehen dürfen. Einmal nutzte er das Soziale Netzwerk, „um einen Freund zu veräppeln“, sagt der 39-Jährige. Unter dem Eindruck „geballter weiblicher Lebensweisheit“ am Weihnachtsabend 2012 legte Rohde das Twitter-Profil einer alten Dame an. Ihre erste Nachricht im Januar: „Guten Tag. Ich heiße Renate Bergmann und bin neu hier. Ich suche nette Damen oder Herren für gemeinsame Unternehmungen. Bitte schreiben Sie.“
Und die Leute schrieben. „Nach einem Tag hatte ich schon 100 Follower“ – also Leute, die Twitter-Nachrichten abonniert haben. Neugier und Interesse an der 82-jährigen Rentnerin wuchsen. Bereits im Frühjahr fragten Medien an. Doch Torsten Rohde ist keiner, der unbedarft mit öffentlicher Aufmerksamkeit spielt. Im Eiscafé Florida am Rathaus Spandau sitzt er ruhig da, erzählt zurückhaltend, dass er BWL in Brandenburg an der Havel studiert hat. Jetzt ist er Controller in einem Unternehmen in Genthin in Sachsen-Anhalt. Sein Lächeln ist etwas scheu. Renate Bergmann ist da anders.
Unverblümt twittert sie ihre Meinung über die sich immer schneller zu drehen scheinende Welt voller „Börnauts“ und „Händis“, aber auch die teils verbittert-unflexible Rentner-Kultur kriegt einiges ab. Zwar verpasst Rohde den Alltagsbeobachtungen der Twitter-Omi eine gute Portion liebenswerte Schrulligkeit, die sich aus der „Mischung aus Bauernschläue, Altersweisheit und Naivität“ ergibt. Sie tangieren aber nicht selten das Sarkastische, ja Zotenhafte. Zum Beispiel, wenn sie „beim Harken auf dem Friedhof den Männern die Haare kämmt“ – Bergmann ist vierfache Witwe. Oder wenn sie sich damit brüstet, es geschafft zu haben, bei einem Leichenschmaus Wurst mitgehen zu lassen. Doch auch nach dem 140sten Zeichen eines derben Tweets ist noch Platz für ein Augenzwinkern, das Rohde wichtig ist.
In einem solchen Tweet „eine Geschichte zu erzählen, eine Situation zu beschreiben und noch eine Pointe zu setzen – das ist die große Kunst“, sagt Rohde. Kunst, die zunächst aus einer Bierlaune entstanden ist, erzählt er. Den Figurenkosmos um die Twitter-Omi hat Rohde genauso herbei-spontanisiert wie ihren Namen. „Bergmann“ stehe in fast jedem Telefonbuch, sagt Rohde. Doch als mehr und mehr Follower Genaueres zu Renates Herkunft und ihren Freundinnen wissen wollten, wurde aus Improvisation Festlegung. Von irgendwo kam es zu Berlin; nach genauerer Frage: Spandau.
Dorthin ist Torsten Rohde schon mehrmals gefahren. „Man muss ja wissen, wo der Arzt oder der Friseurladen ist“, sagt er. Bergmanns Witwenklub trifft sich jetzt im Spandauer Café Kranzler. Wenn Rohde schon nicht mehr den Ort allgemein halten kann, dann doch wenigstens den Charakter der Twitter-Oma. Sie solle eine Großmutter sein, die jeder haben könnte, kein Klischee auslassen, sagt er. „Jeder hat eine Oma, die er lieb hat, aber wegen ihrer Schrulligkeit manchmal mit den Augen rollen muss.“
Torsten Rohde hat dabei aber vor allem seine eigenen Erfahrungen im Kopf: Als Kind hatte er häufig die Großmütter um sich. Seine Uromas hat er alle noch kennengelernt. Von einer stammt Bergmanns Credo: „Korn drückt den Zucker.“ Mit einem Nachmittag beim Damen-Friseur konnte er zwei Kapitel des Buches „Ich bin nicht süß, ich habe bloß Zucker“ füllen, das ab heute im Handel ist.
Renate Bergmann schreibt auch über die DDR, in der Rohde, der sich selbst als „Ossi“ bezeichnet, geboren wurde. Aber durchaus kritisch. „Mir war wichtig, keine DDR-Nostalgie aufzuschreiben“, sagt Rohde. Bergmann wettert immer noch gegen die langen Schlangen vor den Geschäften. Sie verwehrt sich der mürrischen „Früher-war-alles-besser“-Mentalität. „Sie ist neugierig und geht mit offenen Augen durch die Welt“, sagt Rohde. Er wollte einen Gegenentwurf zeichnen zu manchen älteren Menschen, die nur aus dem Fenster schauen. So was mache ihn traurig. Sein Buch, sagt er und lächelt schüchtern, könne da vielleicht auch einen „positiven Nebeneffekt“ haben.
Und was ist mit dem negativen Effekt? Denn erst mit der Buchvorstellung zeigt Rohde den Kopf hinter Renate. Die Twitter-Community findet, Renates Charme sei jetzt weg. „Auf Facebook war sie schon immer eine fiktionale Person“, kontert Rohde. Eine Altenpflegerin, die sich gern um Renate hätte kümmern wollen, schreibe auch schon lange nicht mehr.
„Renate Bergmann“ ist nicht nur ob ihrer Fiktionalität „keine ganz typische alte Dame“. Sondern auch, weil „sie im Hier und Jetzt lebt“, sagt Rohde. Wenn auch nur virtuell.
Renate Bergmann: „Ich bin nicht süß, ich hab bloß Zucker“, Rowohlt Verlag, 224 Seiten, 9,99 Euro.
Vinzenz Greiner
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