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Der Turmbauer. Ulrich Kirschstein war Ende der 70er Jahre Bauleiter bei der Avus-Renovierung – und gerade erst zum 117. Stammtisch-Treffen wieder da.
© Thilo Rückeis

Insel des Stillstands: Avus-Raststätte: Aus dem Verkehr

Umtost von Autos, umschlungen von Asphalt, ist die Avus-Raststätte selbst eine Insel des Stillstands. Ihre Gäste kehren immer wieder zurück. Ulrich Kirschstein hat hier sogar einen Stammtisch gegründet.

Kirschstein kam wegen eines Todesfalls zurück. Und wegen der Parkplätze.

Einem alten Kollegen war die Frau gestorben, der verwand das nicht. Kirschstein rief weitere alte Kollegen an und lud sie ein, gemeinsam zu frühstücken. Das war vor etwa zehn Jahren. Als Treffpunkt wählte er einen Ort, der einfach zu erreichen war und keine Probleme beim Autoabstellen machen würde: einen Autobahnrasthof.

Der verwitwete Kollege nahm die Ablenkung gerne an, auch wenn eine Autobahnraststätte wenig Tröstliches hat für Trauernde, ist ihr Zweck doch der beziehungslose, zeitlich begrenzte Aufenthalt. Und was ist, diese Frage kann sich schließlich stellen im Angesicht des Todes, die Welt dem Menschen schon mehr als der Rasthof dem Autofahrer?

„Die meisten denken, hier ist zu“, sagt Antje Irmler, 42, im Raststättenrestaurant hinter einem Pausenkaffee sitzend. Seit 25 Jahren arbeitet sie hier, auf dem Autobahnrasthof Avus. Tanken, Schlafen, Essen. Halenseestraße 51, Berlin-Charlottenburg. Lernte hier schon, Hotelfachfrau, ging nie weg, erst aus Versehen nicht und jetzt noch? Wozu denn und wohin schon? So ist sie geblieben. Und hat damit wie der Rückkehrer Kirschstein genau das nicht gemacht, wozu ihr Arbeitgeber befähigt, der nämlich aufnimmt, versorgt und weiterschickt, sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag.

Tank & Rast heißt der Konzern im Hintergrund, 1998 hervorgegangen aus einer bundeseigenen Gesellschaft und inzwischen an einen Investor verkauft. SSP – The Food Travel Experts der Pächter, noch ein Name voller Rastlosigkeit.

Ganz anders der Betrieb selbst. Das Gebäude ist ein dicker runder Turm mit vier Balkonringen, an denen Leuchtreklamen hängen: Schultheiss-Bier ganz unten, Agip darüber, Motel Avus ganz oben. Und auf dem Dach steht seit 1959 ein beleuchteter Mercedesstern, weshalb der Turm auch Mercedes-Turm genannt wird. Er steht inmitten eines dichten Geflechts aus mehrspurigen Autobahnen, aus A 115 und A 100, deren Abzweigungen und Zubringern. Autobeladen umringen und umschlingen sie die Raststätte, die trotzig aus ihnen aufragt.

Als das Avus-Haus gebaut wurde, 1937, gab es dieses Meer aus Asphalt und Beton noch nicht, nur Pfützen. Im Laufe der Jahre dann wurden daraus Seen, Flüsse, Ströme, ein Ozean. Die A 100 ist in dem Abschnitt, der an der Raststätte langführt, die am dichtesten befahrene Autobahn Deutschlands: 191 400 Fahrzeuge am Tag, laut manueller Verkehrszählung 2005, das sind zwei pro Sekunde.

Als Antje Irmler vor 25 Jahren zum Vorstellungsgespräch geladen war, wusste sie auch gar nicht, wie sie überhaupt rauf kommen sollte auf diese Versorgungsinsel im grauen Meer. Sie fuhr dann mit dem Bus den Kurfürstendamm hinauf und ging vom Rathenauplatz die restlichen knapp 1000 Meter zu Fuß. Das ist so ungewöhnlich wie ihr Ausharren und Kirschsteins Wiederkehr.

Das Trostfrühstück half dem trauernden Kollegen und wurde etabliert. Die Runde der älteren Herren wurde größer, traf sich weiter, auch als der verwitwete Kollege verstarb. An einem Mittwoch Mitte Juli 2010 fand der 117. Stammtisch statt. Einige der Herren waren des schönen Wetters wegen mit dem Fahrrad angereist. Auch Kirschstein, Ulrich, heute 76 Jahre alt, aus der Stirn gekämmtes weißes Haar und braun gebrannte Sportlerwaden. In seiner Garage in Spandau steht ein Toyota Prius, Hybridantrieb, Benzinverbrauch vier Liter auf 100 Kilometer. Kirschstein ist – nicht, wie die meisten, nur theoretisch, sondern auch praktisch – auf der Höhe der Zeit.

Anders das Avus-Haus, in dessen Raucherzimmer er jetzt mit neun alten Kollegen vorm glitzernden Pils sitzt. Das Haus ist Denkmal einer Zeit, in der die Autofahrt Selbstzweck war und die Raststätte das Ziel. Was können wir für Sie tun?, wird der Reisende vom Personal gefragt, das hier über Jahre arbeitet. Er wird an den Tisch geführt und nach Speisekarte versorgt. Der Rasthof als Restaurant mit Autobahnanschluss entzieht sich den üblichen Effektivisierungsgesetzmäßigkeiten der Autobahnraststättenwelt. Von allen Tank & Rast-Stätten, mehr als 750 bundesweit, liegt die Avus-Raststätte am sonderbarsten: so nah am Stadtzentrum, dass wer abreist, noch nicht wieder hält, und wer ankommt, nicht mehr. Aber sie war ja ursprünglich keine Raststätte, sondern das Verwaltungsgebäude der Avus AG.

Die Avus, „Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße“, angedacht schon vorm Ersten Weltkrieg, eröffnete 1921. Sie war die erste Autobahn überhaupt. Hier fuhren die Wohlhabenden der 20er Jahre ihr Automobile spazieren. Hier wurden aber auch Rennen absolviert. Motorenausdauertests, Reifenbelastungsproben. Die Avus galt erst als schnellste Rennstrecke der Welt, später als langweiligste. Die Nazis bauten die steile Nordkurve ein, zogen mit ihrer Reichsautobahndirektion in das Verwaltungsgebäude, und dann war erst mal wieder Krieg. Danach wurde das demolierte Gebäude repariert und für Fernfahrer ausgerüstet. In der Kurve hoben die Rennfahrer inzwischen mit ihren immer leistungsstärkeren Autos ab, als wäre die Kurve eine Rampe, schossen sie über die Wand hinaus ins Jenseits.

1967 wurde die Kurve abgetragen. 1989 war ein paar Tage lang im Spätherbst Trabistau auf der Strecke. 1999 kam das Aus für den Rennbetrieb.

Hinter dem Panoramafenster unter der Schultheiss-Reklame könnten im americandinerhaften Restaurant heute Gäste sitzen, hineinschauen in den Verkehr, der ihnen, von Süden herkommend, auf den Teller schwappt, und mit Grausen denken an begangene Irrtümer: die ganzen unintelligenten Umweltsünden. Der Verkehrswahnsinn vorneweg, an dem sich nichts ändert, die Autos werden weiterhin immer zahlreicher, dicker und schneller. Der Mensch will nicht schlauer werden. Das könnte sehen, wer hier sitzt. Aber es sitzt hier gerade keiner.

Stattdessen liegen auf den Restauranttischen unter Plexiglas Collagen kopierter Seiten aus dem prächtigen Gedenkbuch „Mythos Avus“. Fotos in Schwarz-Weiß: Männer in, neben, unter, auf Rennwagen. Männer jubeln, weinen, reichen sich Hände, Kränze, Pokale, Urkunden. Raketenautos, Silberpfeile, Fritz von Opel, Manfred von Brauchitsch, Rudolf Caracciola, Hans Stuck, später Hans-Joachim, genannt Striezel, der Sohn.

Die hier in der Regel ihre Teller über diese Bilder schieben, sind Lkw-Fahrer, Busfahrer, Messebauer, wenn gegenüber in den Messehallen was zu tun ist. Die Fahrer schlafen meist in ihren Maschinen, die Messebauer im Hotel. Laut ist es nicht, normales Großstadtrauschen, gleichbleibend monoton, irgendwann überhörbar. Weitere Gäste: Stammtische. Und manchmal Romantiker, die einer Neugier erlegen sind und hoffen, etwas Besonderes zu finden in diesem Haus mit dem mythischen Namen. Es sind vor allem: Männer. Rauchende Männer.

Als zum Januar 2008 das Rauchverbot für Restaurants kam und die Männer nach Dreischnitzelverzehr vor die Tür unter den Heizpilz gehen sollten, gab es kurz einen Aufstand, seitdem hat die Raststätte einen riesigen Raucherraum. Auch sonst ist sie eine traditionelle Männerwelt geblieben. Frauen bedienen, bemuttern und räumen auf, auch im übertragenen Sinn. Die Arbeitsreisenden trinken gern Bier, da wird’s auch mal zu lustig, dann schickt Antje Irmler, die auch auf hohen Absätzen noch eine kleine Frau ist, die Kerle ins Bett, die sich das gefallen lassen, weil sie wiederkommen wollen. Wegen der netten Bedienung und der vielen Parkplätze, 200 Stück in XXL.

Draußen, um die Männerwelt herum, dröhnen Tag und Nacht Motoren, inzwischen bleifrei betankt und abgedimmt durch Schallschutzfenster. Eins der Zugeständnisse an die modernen Zeiten. Außerdem gibt es jetzt Frühstücksbuffet. Aber keine Freeflow-Gastronomie mit individuellen Ausgabebereichen für frei wählbare Speisekomponenten, mit der andere Autobahnraststätten werben.

Rasthofchef Bernhard Gerstmeyer, Mitte 50, ist gelernter Koch. Ein blasser, weicher Mann, der unter der Hitze leidet. In der Glut eines Julimorgens hat er die Blumenkübel vor der Tür gewässert. Jetzt aber hat er sich zu Antje Irmler gesetzt. Es hat Anweisung gegeben, die „Wickie“-Bilder zu entfernen. Die hatten sie auf den Boden im Eingangsbereich geklebt, Reklame für ein Kindergericht, das gerade bei Tank & Rast angeboten wird.

Gerstmeyer ist einer der Dienstjüngsten an der Avus. Er lobt den Teamgeist. Jeder springe ein, helfe, dass alles klappt. Wenn etwa unangemeldet ein Bus mit 60 hungrigen Reisenden auf den Hof fährt, dann packen alle 16 Angestellten an beim Kartoffelnschnippeln. Bei ihnen liege keine Roulade in der Soße. Es werde „à la minute“ gekocht. Aber Busüberfälle sind auch nicht direkt die Regel.

Seit 2002 ist Gerstmeyer hier Chef, zuvor versorgte er Reisende im Bahnhof Zoo. Noch so ein West-Berliner Mythos, der von der Zukunft, in diesem Fall: der Deutschen Bahn AG, abgehängt wurde. Auf der Avus-Raststätte war es der Denkmalschutz, der die Uhr angehalten hat, wie auch für die Tribüne gegenüber, die gesperrt ist wegen Baufälligkeit. Sie sind laut Denkmalamt „Sachzeugnisse der Geschichte einer bedeutenden Sportstätte“.

Wenn Rennen stattfanden, waren im Avus-Motel Helfer der Rennteams untergebracht, und zum Gucken von den Balkonen kamen auch die wichtigen Leute aus dem Motorsport, aus der Stadt. Die Balkone sind nur über die Zimmer zugänglich, ein Balkon für alle auf der Etage. Ein Zimmer wurde deshalb in jedem Stockwerk als Durchgang frei gehalten. Einer, der hier stand, ist Stammtischgründer Kirschstein. Er war Bauleiter, 1977, bei der großen Renovierung. Damals erhielt der Rasthof seine heutige Form. Es kam ein Erweiterungsbau dazu, Küchentrakt und zusätzliche Zimmer, die Zimmer bekamen Bäder, das Untergeschoss großzügige Sanitäranlagen, Kondomautomat, Duschen, Urinale. Matt Damon hat sich hier mal die Hände gewaschen für eine Szene in „Bourne Verschwörung“. Ein Riesentheater, sagt Gerstmeyer. Für den Film wurde das Gelände auch von außen gefilmt, aus dem Hubschrauber: graue Straßen, grauer Himmel, graue Stadt, ein Turm mit Leuchtschriften. Die Botschaft dazu: Achtung, jetzt Schauplatz Berlin.

Matt Damon ist übrigens nie wiedergekommen. Wie es sich auch eigentlich gehört für Rastplatzgäste.

Wenn es Morgen wird auf dem Rasthof Avus, kommen die Fahrer aus dem Hotel, frisch geduscht gegen Zahlung von zwei Euro 60, starten sie die Motoren und donnern los. Tschüss, ruft Gerstmeyer, bis nächstes Mal!

Zwischen dem Pkw- und dem Lkw-Parkplatz, da, wo früher die Nordkurve stand, üben Berliner Jungs sich an manchen Tagen im Kartfahren, an anderen lassen sie ferngesteuerte Autos rasen. Und immer stinkt es nach Benzin.

Lesen Sie im nächsten Teil: Die Rettungsinsel

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