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Wedding: Auf den Leim gegangen

Tape Art heißt die neue Kunstform aus den USA. In Wedding entsteht das größte Klebebild der Welt.

„Klebeland“ ist eine Mischung aus Miniaturbaumarkt und Kunstgalerie. Deutschlands erster Haftrollen-Laden liegt in Wedding, am hinteren Ende der Reinickendorfer Straße. Früher war hier das Büro eines Klempners. Doch der ist seinem Neffen zuliebe in den hintersten Raum gezogen und hat Timm Benjamin Zolpys und seinen Visionen Platz gemacht. In Zahlen ausgedrückt sieht das so aus: Über 3000 verschiedene Klebeprodukte liegen in den Regalen aufgereiht. In bunten Farben, klein und breit oder groß und schmal, zum Lackieren, Packen, Absperren oder Bauen. An der Wand sieht man, was man mit den Rollen noch machen kann: Tape Art, Klebekunst. Zwei dunkle Augen blicken auf den Ladenbesucher nieder, die aus lackigen Streifen an der Wand skizziert sind.

Geschäftsführer Zolpys, 29 Jahre alt, will mit den selbstklebenden Rollen groß rauskommen. Deswegen hat er sich einen Werbetrick einfallen lassen: Nichts Geringeres als das größte Straßenkunstbild der Welt, bestehend allein aus seinem Verkaufsprodukt, unweit seines Ladens. Der geschäftstüchtige Politologe hat den szenebekannten Street-Art- Künstler El Bocho davon überzeugt, er müsse unbedingt ein Tape-Art-Kunstwerk vollbringen. Seit zehn Tagen klebt der nun die rund 1100 Quadratmeter große Fassade des leer stehenden Stadtbads Wedding ab. Neuland für den vielseitigen Künstler, für das er ein comichaftes Frauengesicht und den Schriftzug „And then we take Berlin“ entworfen hat, auf knallrotem Hintergrund.

Nur das Wort „Berlin“ fehlte gestern noch. Das muss El Bocho bis Freitag aufgeklebt haben. Denn das geschlossene Bad wurde kürzlich an einen Berliner verkauft, der die Schwimmhalle samt Duschhallen in Zukunft als „Kreativcenter“ nutzen will. Diesen Samstagnachmittag, wenn das weltgrößte Tape-Art-Kunstwerk der Öffentlichkeit präsentiert wird, eröffnet im Gebäude die Straßenkunst-Ausstellung „Urban Affairs“. „Wir erobern erst Berlin“, sagt El Bocho, „und dann den Rest von Europa.“ Die „Tape- Welle“ werde nach diesem Projekt erst richtig losgehen, sagt der unscheinbare Künstler mit Kapuzenpulli und langen braunen Haaren. Der 31-Jährige will seinen Namen nicht nennen, arbeitet immer unter dem Pseudonym, weil seine Bilder und Plakate auf Straßenmauern und Häuserfassaden nicht von allen als Kunst anerkannt werden. Aus Sicht der Behörden sind sie zum Teil sogar strafbar – doch das ist eine andere Geschichte.

„Es gibt jetzt schon viele Künstler in der Stadt, die von Tape Art begeistert sind und mitmachen wollen, obwohl sie bisher nichts mit dem Material zu tun hatten“, sagt El Bocho. Die Kunst werde die Klebeindustrie schon bald zu neuen Produkten animieren, so wie einst Graffitikünstler die Sprühdosenhersteller.

Bislang ist Tape Art in Deutschland aber kaum bekannt, eine absolute Nischenkunst. Im Gegensatz zu den USA, wo Klebebandbilder sogar in Nationalmuseen hängen, heißt es hierzulande oftmals noch „Täp was?“ Das soll sich bald ändern. Dafür will Zolpys mit seinem Geschäftspartner Mohamed Ghouneim von Wedding aus sorgen. „Wir wollen zeigen, dass die Bänder ein lebendes Produkt sind“, sagt Zolpy euphorisch, „sie sind nur abstrakt, solange man nichts Tolles daraus macht.“ Trotzdem sei ihr Laden „am Ende des Tages ein Fachhandel mit IKS-Klebetechnik“. Da passt es gut, dass gerade ein Lehrer vom Friedrich-Engels-Gymnasium eine Menge Haftrollen kauft. Für seinen Leistungskurs Kunst.

Ferda Ataman

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