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Stricken im Trend: Anders gestrickt

Stricken galt als spießig und öko. Nun machen es viele junge Frauen – weil es guttut und plötzlich cool ist. Ein Selbstversuch.

Da hängt sie jetzt. Einfach von der Nadel gerutscht, nähert sich die kleine Schlaufe bedrohlich dem Wollwust. Sie sollte nun sauber aufgereiht neben den anderen auf der Stricknadel liegen. Stattdessen rutscht sie immer tiefer ab, und meine verkrampften Finger schaffen es nicht, sie wieder in die rettende Ordnung zu angeln. Was mache ich hier nur?

„Gar kein Problem“, sagt Katharina Meintke und eilt gerade noch rechtzeitig herbei, bevor ich dieses ockerbraune Gewirr aus Wolle und Nadeln an die Wand pfeffern kann. Sie übernimmt, zack, zack hat sie die Masche wieder aufgefädelt. „Das sieht doch schon sehr gut aus“, sagt sie aufmunternd. Was soll sie auch sonst sagen? Katharina Meintke ist Modedesignerin und bietet nebenbei Strickkurse für Anfänger an. Denn neuerdings, sagt sie, wollen alle wieder stricken.

Im Internet gibt es unzählige Blogs, auf Youtube Hunderte Strickanleitungen, die jeden einzelnen Schritt liebevoll vorführen. Ravelry.com ist eine Art Facebook für Stricker, wo man seine Freunde über Projekte informieren, Anleitungen teilen und fertige Stücke präsentieren kann. In Gruppen verabredet man sich zum Stricken, „Berlin Knits“ hat knapp 500 Mitglieder. Warum tut man das, wo es doch Schals in allen Farben für wenig Geld bei H&M oder Zara an jeder Ecke gibt?

Um das zu ergründen, begebe ich mich zum Strickkurs in den „Nadelwald“, einen Laden in der Friedelstraße im Neuköllner Reuterkiez. Drei Samstagnachmittage à drei Stunden kosten 100 Euro. Sechs Frauen sind gekommen, alle zwischen 24 und 35. Alex möchte Socken stricken, Yvonne wollte es immer schon lernen, Jacky macht gern alles selbst. Und ich? Wollte nie stricken, fand es spießig, öko, langweilig. In der Schule wählte ich Werken, in der Pause war ich Rudi Völler. Meine Mutter schenkte mir Alice-Schwarzer-Bücher. Ist Stricken nicht ein Verrat an allem, was ihre Generation erkämpft hat, quasi der Inbegriff der weiblichen Domestizierung?

Es ist nett im „Nadelwald“. Wir sitzen auf alten Sesseln, plaudern, es gibt Tee und Bier. Swantje Wendt schaut zu. Sie hat den Laden erst im September eröffnet. Eigentlich wollte die 33-Jährige ein eigenes Modelabel gründen. Doch als sie von der Auflösung eines Nähateliers erfuhr, kaufte sie 13 Nähmaschinen und entschied sich kurzerhand für ein anderes Konzept: Nun vermietet sie Arbeitsplätze für 8,50 Euro die Stunde. Die fertigen Produkte können direkt im Laden verkauft werden. Auch Meintkes Strickmützen liegen hier in den Regalen. Es läuft gut an, sagt Swantje Wendt. „Viele haben wieder Lust, etwas mit den Händen zu machen.“

Ines Imdahl, Diplom-Psychologin am Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold, hat das in mehreren Erhebungen bestätigt. Viele verspürten den Drang, etwas Eigenes zu erschaffen, ein Gegengewicht zur abstrakten, meist computerdominierten Arbeit des Alltags, schreibt Imdahl. Die Zahlen der Initiative Handarbeit belegen das: Die Verkäufe von Handstrickgarnen sind in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Trendforscher der Initiative gehen davon aus, dass die Do-it-yourself-Bewegung eine ähnliche Entwicklung nimmt wie die Bio-Bewegung. „Sie beschreibt den Überdruss an der Konsumgesellschaft“, sagt eine Sprecherin.

Ich denke an meine Weihnachtseinkäufe zurück. Konsumverweigerer sind mir in den aufgeregten Massen nicht begegnet. Doch auch Swantje Wendt erzählt von einer neuen Lust auf Nachhaltigkeit. „Die Leute wollen Sachen, die sie länger tragen können“, sagt die gelernte Schneiderin. „Sie kommen her, weil ihr Lieblingsteil ein Loch hat, und wollen lernen, wie man es repariert.“ Das habe auch etwas mit einer Lust auf Langsamkeit zu tun.

Langsamkeit. Den Faden von hinten nach vorne zwischen den kleinen und den Ringfinger legen, hinten um den Ring- und den Mittelfinger herum, dann zweimal um den Zeigefinger, von hinten kommend um den Daumen, festhalten. „Alles klar?“, fragt Katharina Meintke und blickt in sechs verwirrte Gesichter. Welches Ende hängen lassen? Wohin mit der Nadel? Mantraartig wiederholt Meintke, wie man Maschen anschlägt. „Ich komme“, ruft sie vergnügt und beginnt von vorn.

Belohnung vom Gehirn.

Eine Dreiviertelstunde später macht es endlich Klick in meinem Kopf. Und Meintke hatte recht: Der Anfang ist am schwierigsten. Am Ende der ersten Sitzung können alle rechte und linke Maschen stricken und sogar einfache Muster. Euphorisiert hüpfe ich mit meinem ockerbraunen Lappen aus dem Geschäft.

Später lese ich, dass das Belohnungszentrum meines Gehirns mir eine Flut von Glückshormonen gegönnt hat. Stricken macht nämlich zufrieden, mehr noch: Stricken ist das neue Yoga! Herbert Benson von der Harvard Medical School hat in Studien herausgefunden, dass Stricken genauso wirksam gegen Bluthochdruck und Stress ist. Das rhythmisch-monotone Klackern der Stricknadeln beruhigt, die Gedanken schweifen ab, eine Art Meditation ohne Nebenwirkungen.

Davon will ich mehr. Gleich am Montag führt der Weg in den nächstgelegenen Wollladen, an jeder Ecke scheint es einen zu geben. Große Nadeln, dicke Wolle hat Katharina Meintke für den Anfang empfohlen. Die Verkäuferin der überfüllten „Fadeninsel“ in der Kreuzberger Oranienstraße macht den Eindruck, als seien in ihrem altmodischen Laden in letzter Zeit zu viele junge Frauen mit genau diesem Wunsch aufgetaucht. Launisch drückt sie mir eine Rundstricknadel Größe acht in die Hand und verweist mich in die Merino-Ecke. Ich finde, dass die Wolle kratzt, sie nicht. Also kaufe ich, wenig überzeugt, vier Knäuel in Hellblau für knapp 30 Euro.

Yoga auf dem Sofa habe ich mir anders vorgestellt. Der Daumen tut weh, der Rücken auch, die Wolle fusselt meine Hose voll. Zwei Tage später habe ich gerade zehn Zentimeter geschafft und große Lust, einfach einkaufen zu gehen.

„Bloß nicht!“, sagt Ruta Sluskaite. Im November hat sie den Laden „Wollen“ in der Gärtnerstraße in Friedrichshain eröffnet. Sluskaite hat eine ganz einfache Formel: Kaufe weniger, suche besser aus, oder mach’ es selbst. „Wenn du etwas selbst gemacht hast, dann schätzt du es mehr. Das heißt, du passt besser darauf auf, trägst es länger und sparst dadurch Geld.“ Ruta Sluskaite kommt aus Litauen und hat den Trend erkannt: Hochwertige Wolle, pflanzlich gefärbt, gibt es in ihrem liebevoll eingerichteten Laden. Die 25-Jährige hat als Kind gestrickt, weil es in Kazlu Ruda, einem kleinen Ort im Südwesten Litauens, nicht viel zu kaufen gab. Nun überlässt die Juristin das den „Strickladys“ in ihrem Heimatdorf. Frauen, die ohnehin gern und viel stricken und sich so etwas hinzuverdienen können. Sluskaite entwirft Muster, schickt sie den Ladys und verkauft die Sachen im Laden.

Meinen Durchbruch bringt Lisa. Als die Freundin meine ersten Versuche begutachtet, sagt sie vernichtend: „Mach dich mal locker!“ Lisa weiß, wovon sie redet, schon als Neunjährige hat sie für ihren kleinen Bruder eine Mütze gestrickt. Ein Neuanfang muss her. Sekundenschnell strickt Lisa mir die erste Reihe und übergibt die wunderbar lockeren Maschen. Die Verkrampfung löst sich ganz von selbst. Wir verabreden uns zur „Strickenbar“.

Wenn es noch Zweifel gab, dass die Hipster das Stricken entdeckt haben, fallen sie an diesem Montag. In einem Hinterhof in der Kreuzberger Ritterstraße sitzen mehr als 40 junge Leute bei Fritz-Kola – und stricken. Anfänger und Profis, sogar Männer. Einmal im Monat organisiert das Collectif France Tricot (CTF) dieses Beisammensein an wechselnden Orten, das es auch in Paris und New York gibt. Dort nahm die neue Lust am Stricken vor rund zehn Jahren ihren Anfang – befördert durch prominente Bekennerinnen wie Sarah Jessica Parker, Julia Roberts oder Madonna. Die Begeisterung hat Berlin spätestens in diesem Winter endgültig erreicht.

Monika, ein echter Profi, erzählt von der letzten Aktion, als das CTF dazu aufrief, einen Baum vor der Maria am Ostbahnhof zu bestricken. „Guerilla Knitting“ nennt sich diese neue Protestform, eine Art Wollgraffito. Haltestangen in der U-Bahn, Ampelmasten oder Telefonzellen: Alles lässt sich umstricken. Fröhliche Farbtupfer im Grau der Großstadt, die als politischer Protest und Statement für Gleichberechtigung verstanden werden. Stricken als Ausdruck der Emanzipation, meine Mutter wäre stolz auf mich!

Die richtige Wolle bringt Genuss - und Rausch!

Nach vier Tagen ist der erste Schal fertig, ordentlich gestrickt, aber definitiv untragbar: Er kratzt und fusselt wie Hölle. Bei der zweiten Wollauswahl nehme ich mir mehr Zeit. „Loops“ in der Wörther Straße in Prenzlauer Berg hat die Antwort auf den Berliner Ostwind: Alpaka. Wunderbar dick und fantastisch weich, sechs Knäuel für 33 Euro. Eine Verkäuferin erzählt, dass immer mehr Teenager Wolle kauften. Die zehnjährige Tochter einer Bekannten kam neulich weinend aus der Schule, weil sie wieder keinen Platz im Strickunterricht bekommen hat.

Hirnforscher haben herausgefunden, dass Stricken das Erinnerungsvermögen stärkt. Im Alter ist es gut gegen den Gedächtnisverlust, bei Kindern hat es eine ähnliche Wirkung wie das Erlernen eines Instruments: die Vernetzung beider Gehirnhälften. Wer Klavier spielt, ist auch gut in Mathe, hat mein Klavierlehrer immer gesagt. Der zweite Nachmittag im „Nadelwald“ aber zeigt, dass es genau umgekehrt ist. Wer stricken will, muss Mathe können! Wenn zehn Maschen elf Zentimeter ergeben, wie viele Maschen brauche ich dann für 18 Zentimeter? Dreisatz für Anfänger.

In den nächsten zwei Wochen versinke ich im Rausch. Einmal die richtige Wolle gefunden, die Technik verstanden, macht Stricken nämlich süchtig. Plötzlich ist es vier Uhr morgens, weil man nach jeder Reihe denkt: Eine geht noch. Talkshows werden aufgewertet, Mordszenen einfach überstrickt, Autofahrten verkürzt. Das Ergebnis ist ein zwei Meter langer Alpaka- Traum. Als ich den „Nadelwald“ zum letzten Mal verlasse, fällt mir wieder ein, warum Swantje Wendt so gern Ladenbesitzerin ist. „Die Leute gehen immer glücklich wieder raus“, hat sie gesagt. Stimmt.

Weitere Strickkurse bieten zum Beispiel an: Handmade Berlin, Monbijouplatz 9; Wollen, Gärtnerstr. 32; Knopfloch, Dircksenstr. 105; Loops, Wörther Str. 19.

Anke Myrrhe

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