Berliner Friseurin schneidet ehrenamtlich: Spitzenschnitt für Obdachlose
Fürs Haarewaschen fehlt das Wasser und in den Bartschneidegeräten sind oft die Akkus leer: Franziska Dinter frisiert Obdachlose – unter widrigen Bedingungen. So mancher, der sich zuerst kaum hereintraut, bekommt zum neuen Look noch einen Schutzengel dazu.
Wenn Friseurmeisterin Franziska Dinter ihren Kunden in die Haare greift, tut sie dies mit einer Mischung aus Entschlossenheit und Sanftheit, die erahnen lässt, dass es hier um mehr geht als nur um einen neuen Haarschnitt. An drei Tagen pro Woche rasiert, schneidet und frisiert die gelernte Friseurmeisterin ihren Kunden geduldig die Haare, ohne einen Cent dafür zu verlangen. In der Bahnhofsmission am Zoo, in der Gedächtniskirche am Kurfürstendamm, im Obdachlosenzentrum in Berlin-Mitte und in der Wärmestube in Königs Wusterhausen, wo Dinter lebt.
Manche Kopfhaut ist seit Jahren nicht mit Wasser in Berührung gekommen
Die Kunden der 61-Jährigen sind Obdachlose. 15 bis 20 Schnitte schafft sie in rund 3 Stunden, manchmal auch mehr. Dabei schneidet sie stets trocken, da in den Einrichtungen keine Möglichkeit besteht, Haare zu waschen – aber auch, weil sie bei einem Trockenschnitt die Struktur und den Fall der Haare viel besser erkennt.
Die Friseurmeisterin bekommt Menschen zu Gesicht, die in einem herkömmlichen Friseursalon vermutlich gar keinen Zutritt erhalten würden. „Verfilztes oder fettiges Haar, eitrige Ekzeme, offene Wunden, auch Juckreiz und Wucherungen auf der Kopfhaut sehe ich häufig“, sagt Dinter. Dazu der beißende Gestank einer Kopfhaut, die mitunter seit Jahren nicht mit Wasser in Berührung gekommen ist. Geschweige denn mit Shampoo. Weder Berührungsängste noch Ekel darf empfinden, wer diese Köpfe frisieren will. Schnell fegt Dinter einen Teppich aus verfilzten Haarresten beiseite, der seiner Besitzerin starke Kopfschmerzen bereitet hat. Die Friseurin hat ihrer Kundin eine sportliche Kurzhaarfrisur verpasst, die sich leicht pflegen lässt.
Acht weitere Kunden warten bereits vor der Türe der winzigen Toilette der Bahnhofsmission am Zoo, die heute als improvisierter Friseursalon herhalten muss. Ein halbes Dutzend Rasierapparate und Bartschneidegeräte liegen parat. „Weil irgendein Akku immer gerade leer ist“, sagt Dinter. Eine Flasche mit Desinfektionsspray steht bereit, ein Stapel frischer Handtücher, daneben Einweghandschuhe wegen der Infektionsgefahr, insbesondere beim Kontakt mit Drogenabhängigen. Mehrfach hat sich die Obdachlosenfriseurin schon einem freiwilligen Aidstest unterzogen. Auch vor der Ansteckung mit Hepatitis muss sie sich bei der Berührung von verletzter Kopfhaut in Acht nehmen.
Franziskas Schnippelstübchen
Routiniert legt sie ihrem nächsten Kunden eine frische Papiermanschette um den Hals, wirft ihm einen gemusterten Umhang über die Schultern – und los geht’s. „Einmal alles ganz kurz bitte“, sagt Theo, der aus Bulgarien stammt. Flink beginnt Dinter mit ihrer Schere zu schnippeln.
Mit jedem Zentimeter Haar, das zu Boden fällt, kommt das Gesicht ihres Kunden ein wenig mehr zum Vorschein. Vollkommen wird die Verwandlung, als schließlich auch noch der Vollbart fällt. Theo sieht nun gut und gerne um ein Jahrzehnt jünger aus. Sanft tupft ihm Dinter zum Abschluss ein duftendes Eiswasser auf die frisch rasierten Wangen. „Viele wollen einfach nur mal begrabbelt werden“, sagt sie und lacht. „Sie sind ein Engel“ ruft Theo der Friseurin zum Abschied durch den Hausflur zu.
Schon lässt sich ein weiterer Kunde auf den Sessel fallen. „Einer meiner Stammkunden“, sagt Franziska Dinter. Die Friseurmeisterin kürzt dem Punker, der bereits seit zwei Jahren regelmäßig zum Nachschneiden kommt, akkurat den Hahnenkamm. Der 35-jährige Jakob lebt seit rund acht Jahren auf der Straße. Dinter fragt nicht mehr, weshalb, aber trotzdem kann sie ihren Unmut nicht ganz verbergen. Es liege nicht an ihr, das Leben der anderen zu bewerten, sagt sie. Und doch macht es sie manchmal fassungslos, dass einige Menschen von der Straße jede Anstrengung vermeiden. „Etliche von ihnen könnten schon einer Tätigkeit nachgehen, wenn sie nur wollten“, grummelt Dinter, die selbst noch als Invalide ehrenamtlich arbeitet.
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Der kommende Kunde sieht nicht aus wie ein Bedürftiger. Seine Kleidung, die komplett der Kleiderkammer der Bahnhofsmission entstammt, ist sorgsam kombiniert. Ein weißes Hemd, ein dunkelblaues Sakko, dazu ein kunstlederner Gürtel. Die Schuhe sind stark abgelaufen, doch sauber. Auch die Frisur, ein klassischer Façonschnitt, lässt nicht unbedingt auf ein Leben auf der Straße schließen. Der Mann hält den Blick gesenkt, die Arme bleiben auch unter dem Umhang vor seinem Brustkorb verschränkt. Er spricht kein Wort mehr als nötig und verlässt die improvisierte Frisierstube so schnell, wie er sie betreten hat. Aber nicht, ohne dass Franziska Dinter ihm noch einen Schutzengel in die Hand gedrückt hat. Überrascht bedankt sich der Mann. „Auch wenn die Leute an gar nichts mehr glauben, einen Schutzengel kann schließlich jeder gebrauchen“, sagt Dinter, die sich selbst als gläubig, aber nicht als religiös bezeichnet.
Sie selbst hat auch einen Schutzengel gehabt
Es war wohl auch ein Schutzengel, den Franziska Dinter hatte, als sie vor 16 Jahren einen schweren Unfall überlebte. Von nur einem Prozent Überlebenschance sprachen damals die Ärzte, als die Schwerverletzte nach einem Zusammenprall eines Autos mit einem Zug ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Dinter hatte es auf dem Rücksitz erwischt, während ihre Freundinnen, die vorne im Wagen saßen, unversehrt blieben. Es folgte eine Behandlung auf der Intensivstation, zwei Monate Koma, Verletzungen an nahezu allen Organen, dazu noch Hirnschäden. Anschließend monatelange Bettlägerigkeit. Acht Monate lang hat ihr Mann sie aufopferungsvoll gepflegt, um sie dann – nach 28 Ehejahren – zu verlassen. Dinter musste alles neu erlernen: zu essen, zu sprechen, zu laufen, Treppen zu steigen. Und statt in ihrem Häuschen im Grünen lebte sie fortan in einer kleinen Wohnung im Plattenbau.
Und was macht man mit so einem Leben, wenn man vor dem scheinbaren Nichts steht? „Man freut sich, dass der liebe Herrgott einem noch eine zweite Chance gegeben hat“, sagt die zweifache Mutter und inzwischen fünffache Großmutter. „Und dann besinnt man sich wieder auf die eigene Kraft.“ Für Dinter eine logische Konsequenz, ihr zweites Leben in den Dienst einer guten Sache zu stellen. „Zu Hause wäre ich ohnehin nur auf düstere Gedanken gekommen“, winkt sie ab. Früher war die Friseurin Inhaberin eines kleinen Salons, „Franziskas Schnippelstübchen“. Es grenzte an ein Wunder, dass zwar beinahe alles an ihrem Körper beschädigt war, ihre Hände aber keinen einzigen Kratzer abbekommen hatten. Ein Zeichen des Schicksals? „Bestimmt“, sagt Dinter. „Ab da wurde mein Beruf zu meiner Berufung.“
Die Ängste und Zweifel ihrer Kunden kennt sie aus eigener Erfahrung
Der Neuanfang begann am Punkt null. Heute lebt sie von einer winzigen Invalidenrente, einer Grundsicherung von rund 650 Euro im Monat, inklusive des Unterhalts von ihrem ehemaligen Mann. Deshalb begegnet sie ihren Kunden auf Augenhöhe, wie sie sagt. Weil sie deren Nöte, Zweifel und Existenzängste gut aus eigener Erfahrung kennt. Auch das Gefühl, in den Augen der Gesellschaft nicht mehr sehr viel wert zu sein, ist ihr nicht fremd. Die Kraft, die sie benötigte, um aus ihrem eigenen Tief wieder herauszufinden, gibt sie heute durch ihre Fürsorge an die Obdachlosen weiter, die sie als „die Gefallenen“ bezeichnet. „Nennen wir es das Glück des Gebens.“
Nach etwas über drei Stunden getaner Arbeit desinfiziert die Friseurin vorsichtig ihr Werkzeug, dann packt sie zusammen. Ihre Kunden besitzen oftmals nicht mehr als das, was sie am Leibe tragen. „Und natürlich die Haare auf ihrem Kopf“, sagt Dinter und lacht. „Einen guten Haarschnitt, den kann ich ihnen schenken.“
Alicia Rust