Berlin: Spätes Geständnis eines Bombenlegers
Nach 35 Jahren geklärt: Ehemaliges Mitglied der Stadtguerilla bekennt sich zum gescheiterten Anschlag auf Jüdische Gemeinde 1969
Der Vorfall ist weitgehend vergessen - und hat doch Geschichte gemacht. Am 9.November 1969 versammelten sich rund 250 Menschen vor dem Jüdischen Gemeindehaus in Berlin, um der Opfer der Pogromnacht zu gedenken, und sie standen dabei ahnungslos neben einer Bombe. Doch es passierte nichts; erst einen Tag später hörte eine Putzfrau das Ticken im Getränkeautomaten an der Garderobe und alarmierte die Polizei, die den Sprengsatz entschärfte. Obwohl die Hintergründe schon lange als weitgehend geklärt gelten, war die Identität des Bombenlegers bislang auch den Ermittlern unbekannt. Der Politologe Wolfgang Kraushaar nennt in einem jetzt erschienenen Buch („Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“, Hamburger Edition) den Namen: Es war der Ex-Kommunarde Albert Fichter, der 1970 untertauchte und seitdem im Ausland lebt. Er bittet die Jüdische Gemeinde jetzt um Vergebung für diese „üble Tat“.
Das Jahr 1969 steht für den Zerfall der 68-er Bewegung. Aus ihr ging eine Gruppierung um den Kommunarden Dieter Kunzelmann hervor, die sich nach dem Vorbild lateinamerikanischer Guerilleros „Tupamaros West-Berlin“ nannte, und die nach der Rückkehr von einer militärischen Grundausbildung in Jordanien West-Berlin im Spätherbst 1969 mit einer Serie von Bombenanschlägen überzog. Ihr erstes Ziel war die Jüdische Gemeinde, die für sie den „Weltimperialismus“ repräsentierte und für die angebliche Unterdrückung der Palästinenser stand. „Es kam aus heiterem Himmel“, erinnert sich Ruth Galinski, deren Mann Heinz damals Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde war, „wir waren alle furchtbar erschreckt“.
Auch nach den Aussagen Fichters ist freilich unklar, weshalb der Anschlag scheiterte. Man weiß, dass der Sprengsatz von einem V-Mann des Verfassungsschutzes geliefert wurde, und Fichter betont, er habe gewusst, dass sie nicht explodieren konnte. Nur eine Provokation? Andererseits schildert er die Enttäuschung der Kunzelmann-Gruppe über das Versagen des Zünders. In der Wirkung machte das kaum einen Unterschied, denn zumindest im übertragenen Sinn hatte die Bombe gezündet: Senat, Behörden, Presse und Öffentlichkeit überschlugen sich.
Die erste Spur der möglichen Täter fand sich im „Republikanischen Club“ (RC), dem Sammelbecken des traditionalistischen SDS-Flügels, der sich von den antiautoritären Kräften um Rudi Dutschke abgesetzt hatte; wie heute bekannt ist, war der RC von der Stasi organisiert und finanziert. Dort wurde am Abend des 9.Novembers ein Flugblatt verteilt, das unter dem Titel „Shalom+Napalm“ gegen den israelischen Staat hetzte. Die Autoren „Schwarze Ratten TW“ - TW für Tupamaros West-Berlin – bekannten sich darin zu Schmierereien an jüdischen Mahnmalen und schrieben: „Im Jüdischen Gemeindehaus wurde eine Brandbombe deponiert“. Am 11. November durchsuchte die Polizei die Räume des RC in der Wielandstraße 27/28, stellte aber lediglich eine Blechdose mit Nitroverdünnung sicher. Im RC fand später eine Diskussionsveranstaltung zum Thema „Palästina und die westdeutsche Linke“ statt. Referent Tilman Fichter, der ehemalige SDS-Vorsitzende, analysierte dabei den offenkundigen Antisemitismus des Bekennerschreibens. Pikant: Er war nicht nur der profilierteste Gegenspieler Kunzelmanns, sondern ist auch der sieben Jahre ältere Bruder Albert Fichters.
Kunzelmann selbst veröffentlichte wenig später im Szene-Blatt „Agit 883“ einen „Brief aus Amman“, gleichermaßen Alibi und ideologische Rechtfertigung hart am Rande eines Bekennerschreibens – es wirkte, als rufe der Inspirator der Tat die Berliner Szene zum bewaffneten Kampf auf. Bis zum 30.Dezember 1969 zählte die Polizei rund ein Dutzend weitere Spreng- und Brandanschläge. Der bekannteste ereignete sich am 20.Dezember in der Reklamationsabteilung des KaDeWe; Menschen kamen dabei nicht zu Schaden.
Im Sommer 1970 wurden Dieter Kunzelmann und Ina Siepmann, ebenfalls Tupamaro-Mitglied, verhaftet. Sie galten als Urheber des Anschlags, doch die Behörden konnten die Beweiskette nicht schließen. Kunzelmann war nachweislich nicht am Tatort. Noch drei Jahrzehnte später strickte er in seinen Memoiren weiter an einer alten Verschwörungstheorie und spielte den Ahnungslosen: „Ich frage mich noch heute, ob die Aktion eine Inszenierung von Geheimdiensten war oder ob der Brandsatz von ausgeflippten Sympathisanten der Tupamaros gelegt worden sein kann?“
Tupamaro Albert Fichter, mehr als ein ausgeflippter Sympathisant, flüchtete 1970 über Ost-Berlin und Rügen nach Schweden, lebte dann in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern und kehrte später nach Europa zurück. In Kraushaars Buch wird er mit klaren Worten zitiert: „Die Sache mit der Bombe im Jüdischen Gemeindehaus sollte eine propalästinensische Aktion sein. Dies war eine Idee von Dieter.“ Ein Justizsprecher erklärte am Dienstag, man prüfe den Fall und die etwaige Verjährung.
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