„Geht zurück nach Israel, ihr Kindermörder“: So wurden drei Freunde auf einer Berliner Demo antisemitisch attackiert
Junge Berliner werden Ziel einer antisemitischen Attacke. Obwohl es Zeugen gibt, kann die Polizei den Fall nicht bestätigen. Eine Rekonstruktion der Ereignisse
Sonnabend, 15. Mai, gegen 16 Uhr auf dem Neuköllner Hermannplatz: Das Zentrum Nord-Neuköllns ist voller Menschen mit palästinensischen Flaggen. Ein Mann trägt ein bedrucktes T-Shirt. „Gestern Auschwitz, heute Palästina“, steht auf dem Stück Stoff. Lara, Louisa und Adam (Namen geändert) fühlen sich unwohl. Die Freundesgruppe trifft sich am Ausgang des U-Bahnhofs Hermannplatz und gerät zwischen die Fronten mehrerer pro-palästinensischer Demonstrationen, die an diesem Tag in Neukölln stattfinden.
Eigentlich wird am 15. Mai der „Tag der Nakba“ zelebriert, der Flucht und Vertreibung Hunderttausender Palästinenser aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina gedacht. Doch im Jahr 2021 ist einiges anders. Die Hamas führt einen Raketen-Krieg gegen Israel, die Israelis reagieren mit Bomben auf den Gaza-Streifen. Die Stimmung ist aufgeheizt, auch in Berlin. Später am Tag werden auf der Sonnenallee Pflastersteine fliegen.
Lara, Louisa und Adam gedenken an diesem Sonnabend nicht der „Nakba“ und demonstrieren nicht für Palästina. Die beiden Frauen sind auf dem Weg zu Freunden. Sie wurden zum Shabbat-Essen eingeladen. Adam treffen sie zufällig auf dem Hermannplatz. Lara und Louisa tragen jüdische Symbole wie einen Davidstern als Kette um den Hals.
Die Stimmung auf dem Hermannplatz an diesem Nachmittag beschreiben sie als „unangenehm“. Als die Gruppe versucht, verschiedene antisemitische und NS-bagatellisierende Parolen auf Plakaten und Kleidungsstücken zu dokumentieren, werden immer mehr Menschen auf sie aufmerksam. „Irgendwann wurden wir als jüdisch identifiziert“, sagt Louisa. Es entsteht ein Tumult, viele Personen drängen sich um die drei jungen Berliner. „Geht zurück nach Israel, ihr Kindermörder, ihr seid verantwortlich für das, was passiert“ und „Du Zionisten-Hure“, habe ein Mann geschrien, erzählt Lara.
Fast zwanzig Minuten müssen sich die Freunde gegen ständige Anfeindungen wehren. Mehrmals versuchen Beteiligte, den Dreien ihre Smartphones aus der Hand zu schlagen, Adam wird erst homophob beleidigt und dann körperlich angegriffen. Ein Mann droht: „Ich spucke euch in die Fresse“ und fügt hinzu: „Ihr seid nur hier, um zu provozieren.“ Jedoch ist zuvor keinerlei Provokation von den Dreien ausgegangen. „Das Tragen eines Davidsterns als Provokation? Das ist zutiefst antisemitisch“, sagt Lara.
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Schließlich stellt sich eine kleine Frau vor die Freundesgruppe und versucht sie schützend von der Menge abzuschirmen. Auch sie wird beschimpft. Irgendwann trifft die Polizei ein. Die Beamten bringen die unter Schock stehenden Freunde auf die andere Straßenseite. Die Personalien der drei Freunde werden festgestellt und Anzeigen aufgenommen.
Doch trotz der Polizeipräsenz fühlen sich Lara, Louisa und Adam nicht sicher: „Wir fühlten uns nicht wie die Opfer, vielmehr mussten wir uns vor der Polizei dafür rechtfertigen, dass wir jüdische Symbole getragen haben“, erzählt Lara dem Tagesspiegel. Ein Polizist soll gesagt haben: „Es brennt gerade überall in Berlin, und wir müssen hier rumstehen.“ Ein anderer soll gesagt haben, dass man sich als jüdische Person prinzipiell in Berlin sicher fühlen könne, am „Tag der Nakba“ aber auf Symbole verzichten sollte.
Die Einsatzkräfte wollten sich nach Schilderungen der drei Freunde nicht mal die mir ihren Smartphones gefilmten Videoaufnahmen des Übergriffs angucken. Es gibt mehrere unabhängige Zeugen der Situation, die sowohl den antisemitischen Übergriff, als auch die folgende polizeiliche Maßnahme beobachteten und dem Tagesspiegel die Schilderungen von Lara, Louisa und Adam bestätigten. Die antisemitische Attacke taucht in den Folgetagen in keiner Polizeimeldung auf. Auch die Pressestelle der Polizei wirkt auf mehrmalige Nachfrage hilflos, findet keine Hinweise zu der Attacke auf dem Hermannplatz.
Zur selben Zeit eskaliert die Situation auf der nahen Sonnenallee, als pro-palästinensische Demonstranten Polizeikräfte mit Steinen und Flaschen bewerfen. Über Stunden wird die Polizei nicht Herr der Lage, erst durch weitere hinzugezogene Einsatzkräfte beruhigt sich die Situation. Für die Pressestelle eine mögliche Erklärung, warum der antisemitische Angriff in dieser Situation vielleicht „untergegangen“ ist.