Wahl zum Abgeordnetenhaus: So wählen die Berliner Türken
Der eine lebt seit 47 Jahren hier, darf aber nicht wählen. Der andere ist 19, kann mitbestimmen, geht aber lieber erstmal zum Fußball: Deutsch-türkische Szenen eines Tages.
Erkan und Turgay sitzen mit ihren Sporttaschen im Bus M41. Erkan war in der Wahlkabine. Turgay nicht. „Er stand sogar neben mir im Wahllokal. Wollte dann aber doch nicht.“ Turgay habe keine Ahnung von Politik. Sie sind 19 und 20 und zum ersten Mal wahlberechtigt. Erkan scrollt durch Facebook, dann legt sein Smartphone beiseite. „Weißt du, jeder Sitz, der an so einen Nazi geht, ist einer zu viel.“ Sein Vater habe ihn mit diesem Satz überzeugt, vor dem Fußball sein Kreuz zu machen. Turgay scheint ins Nachdenken zu kommen. „Ja, vielleicht mache ich das noch nach dem Spiel.“ Seinen Ausweis habe er ja dabei.
Die Karl-Marx-Straße in Neukölln wirkt ungewohnt leer am Wahlvormittag. Doch Özge, Ebru und Hülya waren schon um 9 Uhr im Wahllokal. Morgens müsse man nicht lange anstehen. „Außerdem wollen wir jetzt noch zusammen einen Kaffee trinken und das Wetter genießen, bevor die ersten Ergebnisse veröffentlicht werden.“ Alle drei sind in Berlin aufgewachsen und diskutieren im Freundeskreis gerne und viel über Politik. „Wir sind nicht immer einer Meinung und haben auch nicht dasselbe gewählt“, sagt Hülya. Ebru grinst: „Hauptsache es wird Rot-Rot-Grün.“
Zwei ältere Männer sitzen vor dem Neuköllner Rathaus auf einer Bank und unterhalten sich aufgeregt in Türkisch. Einem jungen Mann weisen sie den Weg: „Da musst du fragen, wo du wählen gehen kannst.“ Ob sie selbst schon abgestimmt hätten? „Ich darf nicht wählen. Ich habe einen türkischen Pass.“ Er habe also mit deutscher Politik nichts zu tun.
Sorge wegen der AfD-Wähler
Beide sind vor 47 Jahren als Gastarbeiter nach Berlin gekommen. „Ich habe hier die Straßen gebaut, die Steine mit meinen Händen in den Boden gelegt.“ Er steht auf und stützt sich auf seinen Gehstock. „Und jetzt höre ich nur: Kopftuch hier, Kopftuch da, und Muslime raus.“
Auch sein etwas zurückhaltender Freund wird lauter: „So viele wählen diese AfD. Das macht mir Angst.“ Warum sie keinen deutschen Pass beantragt haben? „Ich will meinen türkischen Pass behalten. Meine elf Enkel haben alle einen deutschen Pass. Die sollen alle wählen gehen.“
Über eine halbe Million Berliner können an den Abgeordnetenhauswahlen nicht teilnehmen, weil sie keinen deutschen Pass besitzen. Das betrifft fast jeden Fünften über 18 Jahren. Das hat die Organisation Citizens for Europe berechnet.
Bahman Wardasbi kam im Alter von drei Jahren nach Deutschland und lebt seit fünf Jahren in Berlin. Der 28-jährige Student finde es absurd, hier zu leben, Teil der Gesellschaft zu sein, und trotzdem nicht wählen zu dürfen. „Ich bin ausgeschlossen vom Mitspracherecht.“ Den Erfolg der AfD bei anderen Landesparlamentswahlen findet er erschreckend „Wenn die AfD hier auch 20 Prozent bekommen würde, könnte ich mich hier nicht mehr wohl fühlen.“
„Wir sind Neuköllner Urgesteine“
Gegen Mittag sind die Neuköllner Straßen wieder gefüllt wie gewohnt. In den Cafés an der Karl- Marx-Straße wird viel diskutiert. „Die Deutschen mögen uns Türken doch nicht. Wen soll man da wählen?“, sagt Sevim und nimmt ihren Sohn auf den Arm. „Wenigstens haben wir hier keinen Diktator wie Erdogan“, entgegnet der Mann am Tisch nebenan. Sofort scheint damit das nächste Thema gefunden.
Familien mit Kinderwagen sind derweil unterwegs zum Wahllokal in der Boddinstraße 55. Die Kinder helfen ihren Großeltern beim Treppensteigen, während die Erwachsenen den Kinderwagen durch die Tür hieven.
Idil Karacoglu und ihr Ehemann Deniz grüßen die Familie und suchen nach einer Sitzgelegenheit.
Wie der Wahlgang war? „Einfach“, sagt Deniz Karacoglu. Wie alt beide sind, will Idil nicht verraten. Deniz lacht und sagt: „Wir sind Neuköllner Urgesteine.“ Idil hebt Stolz den Zeigefinger: „Seit über 30 Jahren sind wir Deutsche und haben seit dem immer gewählt.“
Was sie wohl gewählt haben? Deniz Karacoglu zieht lächelnd die linke Augenbraue hoch: „Ich kenne unser Wahlrecht. Ich wähle anonym.“
Karim El-Helaifi