zum Hauptinhalt
Große Freiheit. Am Tauentzien und auf dem Ku’damm traf sich die Familie nach dem Mauerfall, hier treffen sich Luca-Leon, seine Mutter Katja Blasczok-Schreck und deren Tante Ute Wenzel-Spoo, die im Westen wohnte, auch fürs Foto. Luca hat im Aufsatz beschrieben, wie sich damals alle wiederfanden. 
© Doris Spiekermann-Klaas

25 Jahre Mauerfall: So viel Licht über West-Berlin

Von Kleinmachnow sah Lucas Mutter in den Achtzigern, wie hell es über Zehlendorf war. Licht, das musste die Freiheit sein. Als die Mauer fiel, traf sich die getrennte Familie am Ku’damm. Und Luca staunt: „Als Erstes kaufte Mama sich Turnschuhe“.

Schwarz-weiß – so stellt sich Luca Schreck den Mauerfall vor. Und überhaupt die ganzen Achtziger. „Damals gab es doch noch kein Farbfernsehen, oder?“, sagt er und sieht fragend seine Mutter, Katja Blasczok-Schreck, 38, und seine Großtante Ute Wenzel-Spoo an. Die Frauen lachen. Alle drei sitzen in einem Café am Wittenbergplatz und sprechen über die Vergangenheit. Vorher sind sie ein Stück den Tauentzien Richtung Ku’damm entlanggeschlendert – Orte, die bei den beiden Frauen Erinnerungen an die Wendezeit wecken. „Weil die Familie meiner Mutter sich so gefreut hat, fuhr sie zum Ku’damm und feierte dort“, schreibt Luca in seinem Aufsatz über den Mauerfall, für den er seine Mutter interviewt hat. Die Mutter feierte am 10. November 1989.

Katja Blasczok-Schreck erinnert sich vor allem an ihre Emotionen in jenen Tagen: „Ich fühlte mich auf einmal so frei.“ Die Erinnerung an den ersten Ku’damm-Besuch sei verschwommen: „Da war ganz viel Gedränge und viele Autos und das Schuhgeschäft Leiser gab es auch schon. Vom Begrüßungsgeld habe ich mir ein paar Adidas-Turnschuhe gekauft, silbern mit Weiß.“ Luca guckt sie ungläubig an: „Wurde da auf der Straße Geld verteilt?“ „Nein, dafür musste man zur Bank gehen.“ „Ach stimmt, davon habe ich doch schon mal gehört“, sagt Luca.

Familientreffen nach der Wende: Lange hatten sich Katja Blasczok-Schreck und ihre Großtante Ute Wenzel-Spoo nicht vorstellen können, dass die Familie je zum Gruppenfoto zusammenkommen könnte. Der Traum wurde wahr, doch über die Vergangenheit wurde lange nicht geredet.
Familientreffen nach der Wende: Lange hatten sich Katja Blasczok-Schreck und ihre Großtante Ute Wenzel-Spoo nicht vorstellen können, dass die Familie je zum Gruppenfoto zusammenkommen könnte. Der Traum wurde wahr, doch über die Vergangenheit wurde lange nicht geredet.
© privat

Dass es eines Tages etwas ganz Normales sein würde, gemeinsam in einem Schöneberger Café zu sitzen, hätten sich Katja Blasczok-Schreck und Ute Wenzel-Spoo noch am Nachmittag des 9. November 1989 nicht vorstellen können. Lucas Großtante wohnte damals schon, wie heute, in ihrer Wohnung am Wittenbergplatz „mit KadeWe-Anschluss“. 1980 war sie aus der DDR offiziell ausgereist. Ihre Nichte lebte unerreichbar weit weg – in Kleinmachnow, in der DDR. „Ich fühlte mich damals dort wie in einem großen Gefängnis“, sagt Lucas’ Mutter. Katja Blasczok-Schreck wohnte nahe der Mauer. „Und vom dunklen Kleinmachnow hat man nachts gesehen, wie hell der Himmel über dem beleuchteten Zehlendorf war“, sagt Ute Wenzel-Spoo. „Da ist man doch neugierig auf das Helle.“ Ihre Nichte fügt hinzu: „Der Westen war so unglaublich nah. Und ich hatte so einen Seelenschmerz.“

Alle fuhren zum Ku'damm

Dass Luca sich jene Zeit in Schwarz-Weiß vorstellt, liegt vielleicht auch an der „krassen Familiengeschichte“, wie seine Mutter es ausdrückt. Die Erinnerungen an jene Zeit seien „sehr schmerzhaft: Die Trennung von meiner Tante und meinem älteren Bruder war ganz schlimm.“ Luca schreibt in seinem Aufsatz über den 9. November: „Von meiner Mutter der Bruder saß zu der Zeit im Gefängnis, weil er versucht hatte, aus dem Osten zu flüchten.“ Da habe Luca etwas falsch verstanden, sagt seine Mutter. Sie erzählt die Geschichte noch einmal: Zu Beginn des Jahres 1989 war ihr Bruder verhaftet worden. Er hatte einen Fluchtplan ausgearbeitet und gezeichnet. Doch jemand hatte ihn verraten, bevor er den in die Tat umsetzen konnte. Bis zum 20. Oktober war der Bruder in Haft in Potsdam und wurde dann von der BRD „freigekauft“. Die damals 13-jährige Katja glaubte, sie werde ihn nie wiedersehen.

Die Ereignisse am Abend des 9. November verfolgte sie zu Hause mit ihrer Familie im Fernsehen. Am 10. November fuhr sie nachmittags mit ihren Eltern in den Westen – zur Oma nach Zehlendorf: „Meine Mutter hatte sich darum gekümmert, dass wir dafür offizielle Papiere hatten, während ich in der Schule war.“ Bei der Oma traf sich die ganze Familie aus Ost und West – auch ihr Bruder und ihre Tante waren dabei. Gemeinsam fuhren alle zum Ku’damm: „Ich war überglücklich, weil die Familie endlich wieder vereint war“, sagt Lucas Mutter. Die Erinnerungen an den Schrecken der Zeit vor dem Fall der Mauer wurde im Familiengedächtnis einfach ausgeblendet. „Darüber wurde jahrelang nicht geredet.“

Nicht gern über die Vergangenheit sprechen

Gerade haben sie den 25. Jahrestag der Entlassung aus dem Gefängnis mit einem Familienfest gefeiert. „Wir haben da aber nicht groß über die Sache geredet, sondern uns nur gefreut, dass die ganze Familie beisammen war“, sagt Katja Blasczok-Schreck. Auch ihr Bruder spreche nicht gern über die Vergangenheit. „Er hat aber mal gesagt, dass er sich lange gewünscht habe, der Mauerfall wäre erst ein Jahr später gekommen, damit er noch eine Weile in Westberlin hätte leben können. Dann hätte sich die Zeit im Gefängnis wenigstens gelohnt.“

Für seine Tante Ute Wenzel-Spoo hat er 2012 mal eine Ausnahme gemacht – und sie einen Dokumentarfilm über seine Erlebnisse drehen lassen, in seiner alten Zelle. Sie ist Filmemacherin und Cutterin: „Das war meine Aufarbeitung.“ Zu sehen ist der Film in den Gedenkstätten Hohenschönhausen und Potsdam. Luca kennt den Film noch nicht: „Ich fand meinen Sohn immer noch zu jung, um ihn mit dem Thema zu konfrontieren“, sagt seine Mutter. „Aber der Aufsatzwettbewerb war eine gute Sache, um damit anzufangen, ihn mit der Familiengeschichte vertrauter zu machen.“

„Luca, stell dir mal vor, du könntest deinen Onkel und deine Cousine nie treffen – und mich auch nicht“, sagt seine Großtante. Luca schüttelt den Kopf – das geht nicht. Dann hätte er ja nie mit seiner Großtante vor seinem Geburtstag die Spielzeuggeschäfte auf dem Ku’damm unsicher machen können. „Als du kleiner warst, bist du immer an ihrer Hand losgestapft“, erinnert sich seine Mutter. „Das war so schön“, sagt die Tante. „Den Krankenwagen habe ich aber nicht gekriegt, der war dir zu teuer“, sagt Luca grinsend.

Zur Startseite