Verkehrsunfallbilanz 2019: So (un)sicher sind Berlins Straßen
2019 gab es wieder mehr Unfälle in Berlin, die Polizei zählt in ihrer Statistik fast 150.000. Hauptunfallursache: Fehler beim Abbiegen. ADFC: "Berlin ist noch nicht sicherer geworden"
Mehr Unfälle, aber weniger Tote und Verletzte. Das ist die positive Nachricht der Verkehrsunfallbilanz für 2019. Mit einwöchiger Verspätung hat das Präsidium jetzt die aktuelle Statistik veröffentlicht. Wie berichtet, war in der vergangenen Woche die traditionelle Pressekonferenz mit Polizeipräsidentin Barbara Slowik, Innensenator Andreas Geisel (SPD) und Verkehrssenatorin Regine Günther coronabedingt abgesagt worden.
Offizielle Erklärungen für die vorgelegten Zahlen gibt es deshalb nicht. Überraschend ist vor allem, dass die Zahl der Verletzten um zwei Prozent gesunken ist, dies trotz steigender Einwohner- und Autozahlen in Berlin. In den Jahren zuvor war die Zahl der Verletzten kontinuierlich gestiegen, zuletzt deutlich.
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2019 zählte die Polizei 2300 Schwer- und 15.458 Leichtverletzte. Bei den Verkehrsunfällen setzte sich der ebenso seit Jahren kontinuierliche Anstieg dagegen fort: 2019 waren es 147.306. In diesem Jahr könnte also die Marke von 150.000 übertroffen werden. In den 1990er Jahren waren 150.000 Unfälle normal, die Zahl sank dann bis zum Minimum von 121.000 im Jahr 2006. Bei etwa 90 Prozent der Unfälle bleibt es beim Sachschaden, oft ist es der einfache Parkplatzrempler. Die Hauptunfallursachen auch in diesem Jahr: Fehler beim Abbiegen, Nichtbeachten der Vorfahrt, zu hohes Tempo, falsches Verhalten von Fußgängern - und Alkohol.
Weniger Verkehrstote - auch in Brandenburg
Die Zahl der Verkehrstoten lag 2019 auf dem zweitniedrigsten Stand seit dem Krieg. Es starben 40 Menschen im Straßenverkehr, fünf weniger als im Jahr zuvor. Allerdings schwankt diese Zahl sehr: 2017 war mit 36 die niedrigste Zahl seit dem Krieg erreicht worden. Zum Vergleich: In den 90er Jahren war die Zahl noch dreistellig. Von dem selbst gesteckten Ziel „Vision zero“, also Null Verkehrstote ist der Senat also noch weit entfernt. Im Bundesvergleich ist Berlin wieder auf dem Spitzenplatz: Pro eine Million Einwohner starben 11 Menschen, Schlusslicht ist Sachsen-Anhalt mit 62 Toten pro eine Million Einwohner. Brandenburg – früher oft trauriges Schlusslicht, 2018 noch Vorletzter – hat sich verbessert.
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Mit 50 Toten pro eine Million Einwohner liegt das Nachbarland nun auf dem viertschlechtesten Platz. Stadtstaaten sind traditionell an der Spitze, da es kaum Tempo- bzw. Baumunfälle durch Autofahrer gibt. 2018 war Bremen (ausnahmsweise) etwas besser als Berlin gewesen. Auch im Jahr 2019 starben in Berlin überwiegend „schwächere“ Verkehrsteilnehmer, nämlich 6 Radfahrer und 24 Fußgänger, zudem zwei Motorradfahrer und acht Insassen von Pkw und Lkw. Der Anteil der Schwächeren ist noch einmal gestiegen, nämlich auf den Rekordwert von 75 Prozent. In den Jahren zuvor waren es regelmäßig etwa zwei Drittel. 10 der 24 Fußgänger starben durch eigene Missachtung der Verkehrsregeln, 14 durch Kfz-Fahrer. Abbiegeunfälle gab es lediglich zwei, Tempo-Unfälle dagegen fünf. In diesem Jahr ging es schlecht los: Von den bislang 17 Unfall-Toten waren zehn Radfahrer und Fußgänger.
284 Unfälle mit E-Scootern
Neu in der Polizeistatistik sind die E-Scooter, diese sind erst seit 15. Juni 2019 im Verkehr zugelassen. In diesen sechseinhalb Monaten ereigneten sich 284 Unfälle mit diesen amtlich so genannten „Elektrokleinstfahrzeugen“. Dabei wurden 145 Menschen leicht- und 32 schwer verletzt. Die Unfallzahlen seien bislang nicht bemerkenswert, hieß es, dennoch warnt die Polizei in ihrer Jahresbilanz: „E-Scooter sind keine Spielzeuge, sondern Kraftfahrzeuge.“
Neu in der Polizeistatistik sind auch die Unfallzahlen der eigenen Beamten – wohl eine Reaktion auf den tödlichen Unfall im Februar 2018. In Mitte hatte ein Streifenwegen mit mehr als 90 km/h einen Kleinwagen gerammt. Ein - zuvor noch weitaus schnellerer - Streifenwagen ist auf dem Weg zu einem Einsatz in die Seite gekracht, als sie mit ihrem Kleinwagen in eine Parklücke auf dem Mittelstreifen der Grunerstraße fahren wollte. Die junge Fabien Martini starb bei dem Unfall. Während die Zahl der Polizeieinsätze um zwei Prozent auf 760.000 stieg, gab es bei den Unfällen ein Plus von sechs Prozent. 800 der 1235 Unfälle wurden von Polizisten verschuldet. „In sechs Fällen war nicht angepasste Geschwindigkeit die Hauptunfallursache“, schreibt die Polizei in ihrer Bilanz – teilt aber nicht mit, wie viele dieser sechs Fälle Polizeiautos waren. In diesem Jahr starben im Februar bereits zwei Fußgänger bei Unfällen mit schnell fahrenden Einsatzwagen der Polizei, und zwar in Marzahn und Friedenau.
Warschauer Straße Ecke Oberbaumbrücke am gefährlichsten
Trotz des stark gestiegenen Anteils des Radverkehrs ging die Zahl der Unfälle zurück, und zwar um etwa 1,5 Prozent. Es ist jedoch die zweithöchste Zahl der vergangene Jahre. Die Zahl der Verletzten sank sogar um drei Prozent. In Zahlen: 4800 (2018: 4900) Radfahrer wurden leicht und 670 (743) schwer verletzt. Getötet wurden sechs Radfahrer, der mit Abstand niedrigste Wert seit vielen Jahren. Für den Fahrradclub ADFC gibt es keinen Grund zur Entwarnung, Radfahren in Berlin sei noch nicht sicherer geworden. "Das Mobilitätsgesetz verpflichtet Senat und Bezirke zur Vision Zero. Davon sind wir meilenweit entfernt. Städte wie Helsinki und Oslo machen es vor: Null Verkehrstote sind möglich. Die Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit sind bekannt: Weniger Autos, Verkehr entschleunigen, gefährliche Kreuzungen entschärfen - Berlin muss endlich handeln", sagte ADFC-Vorstand Frank Masurat.
Als gefährlichste Kreuzung nennt die Polizei Warschauer Straße / Mühlenstraße / Oberbaumbrücke. Seit Monaten wird über die Verkehrssicherheit auf der Brücke zwischen Kreuzberg und Friedrichshain diskutiert. Wie berichtet, hat die Verkehrsverwaltung erst breitere und bessere Radwege angekündigt, nachdem ein Aktivist geklagt hatte. Auf dieser Kreuzung gab es 18 Unfälle mit Radbeteiligung, bei denen acht Radfahrer leicht und zwei schwer verletzt wurden. Diese drei weiteren „Brennpunkte“ für Radfahrer nennt die Polizei: Frankfurter Tor, Otto-Braun-Straße/Mollstraße und Wilhelmstraße/Unter den Linden. Die gefährlichste Kreuzung insgesamt liegt auf der anderen Seite der Oberbaumbrücke: Die Ecke Schlesische/Skalitzer Straße führt seit drei Jahren in Folge die „Top-5-Unfallschwerpunkte“ der Hauptstadt an, 2019 wurden 392 Unfälle gezählt, täglich also einer. Dahinter rangieren die üblichen vier Kreisel im Westteil der Stadt: Großer Stern (313), Jakob-Kaiser-Platz (290), Ernst-Reuter-Platz (274) und Theodor-Heuss-Platz (261).