Offene Fenster und Kinder auf Abstand: So sieht der Corona-Alltag an einer Berliner Schule aus
Um Ansteckungen vorzubeugen, müssen Schüler und Lehrer viele Einschränkungen in Kauf nehmen. Zu Besuch an der Friedensburg-Oberschule in Charlottenburg.
Von außen macht die Friedensburg-Oberschule erst einmal einen unscheinbaren Eindruck. Der moderne, dunkelrote Klinkerbau reiht sich lückenlos neben den beschaulichen Wohnhäusern der Charlottenburger Goethestraße ein, ohne weiter aufzufallen. An dunkelgrün gerahmten Eingangstüren aus den 1990er-Jahren kleben spontan ausgedruckte Hinweisblätter, die auf das Tragen einer Maske und die Desinfektion der Hände hinweisen.
Dahinter verbirgt sich eine der größten Bildungseinrichtungen Berlins: Auf mehr als 15.000 Quadratmeter erstreckt sich der Schulkomplex. Klassenzimmer, Sporthalle, Pausenhof und Mensa. Mehr als 1200 Kinder und Jugendliche gehen hier zur Schule, 140 Lehrkräfte unterrichten sie.
Angesichts solcher Zahlen wirkt die Schule an diesem Mittwochvormittag erstaunlich leer. Nichts ist zu sehen von rangelnden Kindern mit verrutschten Masken oder Ähnlichem. Damit sich Schüler außerhalb ihrer Klassen möglichst nicht über den Weg laufen, sind die Pausen unterschiedlich getaktet. Es ist eine der vielen Maßnahmen, die das befürchtete Horrorszenario abwenden sollen.
„Zu diesem Schuljahresbeginn habe ich zum ersten Mal in meiner Zeit als Direktor gespürt, wie sich wirklich alle unheimlich auf die Schule freuen“, erinnert sich Sven Zimmerschied.
„Vielfalt ist für uns ein Gewinn“ steht auf der Visitenkarte des 48-Jährigen, der die Schule seit 2015 leitet. Auf den Fluren hängen Plakate auf Spanisch zum Thema LGBTQ oder den Black-Lives-Matter-Protesten. Als eine von elf sogenannten Europaschulen wird an der Friedensburg-Oberschule nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf einer zweiten Hauptsprache regulär unterrichtet.
Die Fenster sind offen - manchmal ist es ganz schön kalt
Die Schülerin Natalie (11) gehört zu denjenigen, die beide Sprachen fließend beherrschen. „Es ist besser, dass ich jetzt wieder meine Freunde sehe und nicht mehr die ganze Zeit alleine zu Hause sitze“, sagt sie sichtlich erfreut. Zusammen mit den anderen Siebtklässlern hat sie sich im Stuhlkreis um den Besuch von der Zeitung versammelt. Wie auch im Rest der Schule steht die Tür zum Klassenzimmer offen, die Fenster sind auf Kipp. „Manchmal ist es deswegen ganz schön kalt gewesen in der Klasse“, erzählt der 12-jährige Luca.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Alle Schüler haben viel zu sagen zur Corona, nie sind weniger als fünf Finger gleichzeitig in der Luft. Die Zeit, in der bis zu den Sommerferien von zu Hause aus gelernt werden musste, hat hier niemandem so richtig gefallen. Dabei war die Schule laut Zimmerschied besser vorbereitet als andere. „Wir hatten schon ein paar Monate vor Corona ein E-Learning-System an der Schule eingeführt“, erklärt der Direktor.
Neu ist hingegen ein spezielles Programm für die direkte Kommunikation zwischen den Lehrern und Schülern. Die Nutzung üblicher Messenger wie etwa Whatsapp ist aus datenrechtlichen Gründen untersagt. Neben dem Chat-Programm stellte die Schule außerdem einen kostenfreien Zugang zu Microsoft Word zu Verfügung. „Für Kinder ohne Computer gibt es Ausleih-Programme, die wir in Zusammenarbeit mit einer Stiftung anbieten“, führt Zimmerschied weiter aus.
Digitalisierung wird verschlafen
Dem Direktor wäre es jedoch lieber, den sozial schwachen Familien würden die Geräte von staatlicher Seite aus finanziert. „Sachen wie diese hatten wir uns eigentlich vom Digitalpakt erhofft. Aber mit den Bedingungen, die es da gibt, hat sich das wieder völlig zerschlagen“, so Zimmerschied.
Er bemängelt, dass die für seine Schule auf 25.000 Euro gedeckelten Gelder schlichtweg nicht ausreichen würden. Im Moment verschlafe die Politik eine große Chance zum Umdenken in Sachen Digitalisierung. Auf dem jüngsten Schulgipfel hat die Regierung nun beschlossen, den Lehrkräften kostenfreie Laptops zur Verfügung zu stellen. Der erhoffte große Wurf ist laut Kritikern dennoch ausgeblieben.
IT-Experten wären hilfreich
Die Zeit zu Hause verlief nicht ohne Schwierigkeiten. „Oft waren es einfach zu viele Aufgaben für einen Tag“, kritisiert der elfjährige Juansi. Seine Mitschüler pflichten ihm bei. Luisa Fotopoulos, die die Klasse unterrichtet, weiß, dass auch mit gutem digitalen Unterricht nicht alles aufgefangen werden kann. „Der Kontakt von Angesicht zu Angesicht hat gefehlt“, sagt sie. „Manchmal wusste man nicht: Haben sie jetzt gerade keine Möglichkeit, zu antworten oder geht es ihnen schlecht?“ Auch IT-Experten habe sie vermisst.
Als die Friedensburg-Oberschule ihre Tore nach den Osterferien wieder öffnete, wurde der Unterricht zunächst im Ausnahmezustand weitergeführt. Die Klassen wurden in kleinere Grüppchen aufgespalten und der Unterricht über den Tag ausgedehnt. Für die Lehrkräfte bedeutete dies, denselben Stoff immer und immer wieder am Tag zu wiederholen. Die Schülergruppen wechselten sich ab. Unterrichtet wurde mal morgens, mal nachmittags. „Das war wie Jetlag für die Schüler“, erzählt Fotopoulos. Der Biorhythmus sei dabei schon etwas durcheinander geraten.
[Corona in Ihrem Kiez: In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihren Bezirk. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de]
Mit der Rückkehr zum physischen Unterricht hielt die Angst unter manchen Lehrkräften Einzug. Laut Zimmerschied legten insgesamt 30 Lehrerinnen und Lehrer Atteste vor, in denen sie sich – mal mehr, mal weniger überzeugen – zur Risikogruppe erklärten. Inzwischen sitzt niemand mehr zu Hause. Womöglich auch deshalb, weil keiner als schwarzes Schaf dastehen will. Gebraucht werden sie allemal: In Berlin herrscht Lehrermangel.
Bisher hat es lediglich einen Corona-Fall an der Friedensburg-Oberschule gegeben. Die Infektion ereignete sich außerhalb des Schulalltags, Ansteckungen konnten vermieden werden. Zimmerschied selbst ist überrascht, dass es noch nicht zu mehr Infektionen gekommen ist. „Eigentlich erstaunlich bei einer so großen Schule“.
Abstand halten auf dem Pausenhof - gar nicht so einfach
Nehmen die Schüler ihre Verantwortung also doch ernster, als so viele dachten? „Die Masken sind nervig, aber besonders schwierig ist das mit dem Abstandhalten“, erklärt die zwölfjährige Yaiza. Gerade auf dem Pausenhof sei das alles nicht so einfach. Die größten Unterschiede zu früher spüren die Kinder im Sport- und Musikunterricht. Bälle werden nicht mehr geworfen, sondern nur noch getreten, Blasinstrumente oder Singen sind tabu.
Huanel (12) hat eine besondere These, was die Maßnahmen angeht. „Ich glaube, dass sich ältere Schüler weniger daran halten als die jüngeren“, meint der Zwölfjährige. Seine Lehrerin ist sich da nicht so sicher: „In meinen Augen sind hier alle sehr diszipliniert.“ Sie stört vor allem, dass es im Klassenraum seit Ende der Sommerferien keinerlei Abstandsregeln mehr gibt. „Da hätte ich mir gewünscht, dass wir mit der Hälfte der Klasse gestartet wären“, erklärt sie.
Schulleiter wünscht sich mehr Flexibilität
Während einer kleinen Führung über das Schulgelände muss Direktor Zimmerschied dann doch ein paar Schüler ermahnen, das in exklusive Auf- und Abgänge unterteilte Treppenhaus korrekt zu nutzen. Widerworte oder Unverständnis schlagen ihm nicht entgegen. Die größten Probleme im Kampf gegen Corona sieht Zimmerschied bei der Zusammenarbeit mit den öffentlichen Stellen.
„Ich würde mir manchmal gerne ein bisschen mehr Flexibilität wünschen“, bemängelt der Schulleiter. „Manches ist bis zu zwei Wochen in der Senatsverwaltung unterwegs.“ Bürokratie und die auf die Bezirke verteilten Zuständigkeiten machten schnelle Reaktionen auf plötzliche Änderungen unmöglich. Es fehle eine zentrale Stelle wie zum Beispiel in Hamburg, die das Vorgehen steuert.
Die große Katastrophe ist an der Friedensburg-Oberschule, wie auch in den restlichen Berliner Bildungseinrichtungen, vorerst ausgeblieben. Nur relativ wenige Schulen mussten aufgrund von Infektionen mit Covid-19 vorübergehend wieder schließen. Zimmerschied befürchtet jedoch, dass sich das jederzeit losgehen könnte: „Ich weiß nicht, ob wir einfach nur Glück hatten.“