Auf den Straßen der Hauptstadt: So leben Berlins Flaschensammler
Einige wühlen im Müll, andere machen Hausbesuche - aber Geld verdienen lässt sich mit dem Sammeln von Pfandgut kaum. Warum tun Menschen das? Wir haben vier von ihnen getroffen.
Es bringt Struktur ins Leben
Klaus-Peter Ihle, 45 Jahre
Beruf: ungelernt, jobbt in einer Tischlerei
Tageseinnahme: 1,20 Euro
Sammelplatz: Stadion An der Alten Försterei
Freitagabend, Endspurt in Liga zwei, Union gegen Köln. Siebter gegen Erster. Die S3 vom Ostkreuz voll bis unters Dach. Man trägt Rot-Weiß und in der Hand ein Bier. Im Bahnhof Köpenick wartet an jeder S-Bahn-Tür ein Ein-Mann-Empfangskomitee mit Einkaufswagen oder Tüte. Hunderte Flaschen wechseln den Besitzer. Ein Union-Fan, die leere Flasche im Anschlag, steuert den Bollerwagen eines Sammlers an, stellt die Flasche hinein. Der Hund des Sammlers beißt zu, erwischt aber nur die Jeans des Fans. Der Sammler zum Fan: „Entschuldigung, nichts für ungut, hat der noch nie gemacht.“ Dann seitab zum Hund: „Im Prinzip jut reagiert.“
Rechts neben der Union-Kneipe „Abseits“ führt ein schmaler Waldweg direkt zum Stadion, Sektion 2, Aufgang E-J. Am Ende des Weges, zwischen Bratwurststand und Bierbude, setzt Klaus-Peter Ihle zum Sprint an. Doch ein anderer ist schneller und schnappt ihm die Schultheiss-Flasche, die gerade aus einer Hand auf den Weg fällt, vor der Nase weg. Heute ist nicht Ihles Tag. Das ging schon damit los, dass er zu spät dran war, erst eine Stunde vor Spielbeginn. „Da sind die guten Plätze schon weg.“ Ihle, 45, rote Union-Kappe zu Lederjacke und ausgewaschener Bluejeans, steht jetzt auf dem schlechten Platz und versucht, das Beste daraus zu machen. Zwei Plastiktüten hat er dabei und den Einkaufstrolley, den er nicht brauchen wird.
Seit Februar hat Ihle wieder einen Job in einer Tischlerei. Seitdem sammelt er nur noch am Wochenende. Letztes Jahr war er noch sechs Tage die Woche unterwegs. Das Flaschensammeln hat seinen Tag strukturiert: Morgens etwas länger schlafen, nach dem Mittagessen gegen zwölf Uhr los. Vom Alexanderplatz über den Lustgarten bis zum Brandenburger Tor. Mit der Beute nach Hause, Kaffeetrinken, Abendbrot, dann die nächste Schicht: Gegen 19 Uhr zum Potsdamer Platz, von dort zur Friedrichstraße. Gegen ein Uhr wieder zu Hause. Sonntag war in der Regel frei.
Vom Stadion schallen die Fangesänge herüber. Ihle zieht ein silbernes Feuerzeug aus der Tasche und zündet sich eine Zigarette an. An seinem Handgelenk blitzt eine Uhr, ebenfalls aus Silber. Er trägt seinen Schmuck mit Stolz. „Ich hab eine Menge Geld am Körper hängen“, sagt er. Für insgesamt 600 Euro. Genauso viel hat er im letzten Jahr mit Flaschensammeln verdient. Die Uhr hat er sich davon gekauft und die kleine Kette mit dem Delfinanhänger, die er um den Hals trägt.
Sein Traum: ein Haus zu kaufen, als Heim für Obdachlose
Während einige der anderen Flaschensammler um ihn herum auf die Fans zugehen, steht Ihle regungslos auf seinem Platz, die Tüte vor ihm geöffnet. Ein Fan schmeißt im Vorbeigehen eine Flasche hinein. Ihle bedankt sich leise. Früher habe er am liebsten nachts gesammelt, sagt er. „Da sind weniger unterwegs, die Konkurrenz ist nicht so groß.“ Immer mal wieder haben ihn andere Sammler angeblafft, dass das ihr Revier sei. Ihle entgegnete ihnen, dass das doch ein öffentlicher Platz sei. Gegangen ist er dann trotzdem. „Arroganz kann ich nicht leiden.“
Ihle ist in Leipzig aufgewachsen, in einem DDR-Kinderheim. Vor ein paar Jahren hat er eine Entschädigung bekommen, davon hat er die andere Silberkette gekauft, die er um den Hals trägt. Seit 1997 lebt er in Köpenick, allein. Sein Geld will er später spenden. Sein Traum wäre es, ein Haus zu kaufen, aus dem dann ein Obdachlosenheim wird. Immer mal wieder geht er auch zur Berliner Tafel. Wenn das Geld nicht reicht und auch beim Sammeln nicht genug rumkommt.
So wie heute. Als das Spiel um halb sieben angepfiffen wird, macht Ihle Kassensturz: 15 Flaschen zu je acht Cent, ergibt 1,20 Euro. Das reicht nicht mal für die Zigaretten, die er in der Zeit geraucht hat. Er schaut lange in die Tasche, zählt noch einmal durch. Im Stadion brandet Jubel auf, aber Ihle reagiert nicht, er erzählt von alldem, was noch schieflief. Von den Frauen, die nicht mehr bei ihm sind. Und vom Leben, das ihm manchmal zu viel wird. Zwei Mal hat er versucht, es zu beenden.
Bevor er geht, schaut er das erste Mal zum Stadion. „Ich hoffe, dass die heute gewinnen.“ Das Ergebnis will er sich zu Hause im Videotext anschauen. Er wird sehen, dass Union nach einer 1:0-Führung noch verloren hat.
Es ist ein Extra für die Haushaltskasse
Nils Rohloff und Jenny Sprange, 22 und 24 Jahre
Beruf: Ausbildung zum Pharmakant/arbeitslos
Tageseinnahme: mindestens 2 Euro
Bevorzugter Sammelplatz: Warschauer Straße
Als er sechs Jahre alt war, begreift Nils Rohloff, dass es verschiedene Arten von Müll gibt. Er bringt eine Flasche zum Getränkemarkt, die er auf der Straße gefunden hat. 15 Pfennig gibt ihm der Mann an der Kasse. Nils Rohloff versteht, dass er sein wöchentliches Taschengeld von 50 Pfennig mit nur wenigen Flaschen verdoppeln kann.
Heute, mit 22, sitzt er mit seiner Freundin Jenny Sprange, 24, auf der schwarzen Imitatledercouch in seiner Einzimmerwohnung in Berlin-Schöneberg und erzählt von den Anfängen. Ein schmaler junger Mann, die kurzen blonden Haare ungestylt. Neben der Couch auf dem Tisch eine Glasvase, darin gut 30 Feuerzeuge, auf dem Schrank stehen aufgereiht drei leere Flaschen Absolut Wodka.
Nach der Schule, Mittlerer Schulabschluss, fand Rohloff keinen Job. Arbeitslos, Hartz IV, zu wenig. In dieser Zeit sammelte er immer häufiger Flaschen, wenn er draußen spazieren ging. Wenn in der Stadt ein Fest gefeiert wurde, fuhr er hin. Christopher Street Day, Karneval der Kulturen. „Da hatte ich an die hundert Club-Mate-Flaschen in ein paar Stunden.“ Vom Abfall der Hipster kaufte er Lebensmittel für die ganze Woche.
Mittlerweile hat Rohloff eine Ausbildung als Pharmakant begonnen. Erstes Lehrjahr, mit dem Kindergeld, das seine Eltern ihm auszahlen, kommt er auf etwa 860 Euro. Seine Freundin hat keinen Schulabschluss, keinen festen Job. Ein bis zwei Mal die Woche verteilt sie Zeitungen. Das bringt noch mal rund 50 Euro im Monat. Zum Leben zu wenig, das Pfandsammeln hilft.
Schon als Kind hat er gelernt: Müll ist nicht gleich Müll
In der Wohnküche hinter dem Herd ist das Pfandlager. Bevor es zum Supermarkt geht, sortiert Rohloff die Flaschen. An der Wohnungstür steckt er seine Utensilien ein: Taschenlampe, leere Plastiktüte, Desinfektionstücher. Ein paar Schritte vor der Haustür hält Rohloff mitten in der Bewegung inne, geht einen halben Meter zur Seite und leuchtet mit seiner Taschenlampe in den orangefarbenen Mülleimer. Seine Freundin geht weiter.
Ihr Blick auf das Pfandsammeln habe sich verändert, seit sie mit Nils zusammen ist, sagt Jenny Sprange. Seit über drei Jahren sind sie ein Paar. Trotzdem ist sie jetzt weitergegangen, als sei es ihr doch unangenehm. Sie selbst sammelt nur hin und wieder, in Mülleimer würde sie nicht greifen. „Da würde ich mich schämen.“ Rohloff sammelt überall. Auf dem Weg zur Arbeit, in der Berufsschule, sogar beim Feiern. Wenn er am Wochenende an der Warschauer Straße ist, sammelt er auf dem Weg zum Club. Die Tüten versteckt er dann in einem Gebüsch und hofft, dass sie nachher noch da sind. An manchen Abenden, sagen beide, finanzieren sie sich so die Getränke.
Über die Jahre ist Nils Rohloff zu so etwas wie einem Flaschenexperten geworden. Nicht jeder Supermarkt nimmt jede Flasche an. Ein bis zwei Flaschen muss er im Monat wegschmeißen, den Rest macht er zu Geld. Manchmal sogar über Wert. Rohloff nennt es „das Lehmann-Geheimnis“. Vor ein paar Monaten brachte er ein paar Flaschen zu einem Lehmann-Getränkemarkt und bekam zehn Cent pro Bierflasche. Erst dachte er, der Mitarbeiter hätte sich verrechnet, tatsächlich aber macht der Getränkemarkt seine eigenen Pfandpreise. Es geht zwar nur um zwei Cent pro Flasche, aber so, wie Rohloff das erzählt, könnte man meinen, er habe unter seinem Bett gerade ein Ölfeld entdeckt.
Wenn Rohloff diese Geschichten erzählt, dann schwingt Stolz in seiner Stimme mit. Stolz, dass er sich etwas kaufen kann von dem, was andere wegwerfen. Stolz auch, dass er die Flaschen als bares Geld sieht und nicht als Müll, wie seine Kollegen an der Berufsschule, die ihm auch mal einen Spruch drücken, wenn er wieder eine Flasche aus dem Mülleimer zieht. „Ich schäme mich nicht für das Sammeln. Dafür mache ich das schon viel zu lang.“ Seit damals, als der sechsjährige Nils erkannte, dass Müll nicht gleich Müll ist.
Es ist eine Haltung
Nicole Liebmann, 39 Jahre
Beruf: Trödlerin
Tageseinnahme: 3 Euro
Bevorzugter Sammelplatz: Hausbesuche
Vor ein paar Wochen saß Nicole Liebmann im Jobcenter, ihr gegenüber ein neuer Sachbearbeiter. Ob sie denn nicht endlich mal richtig arbeiten wolle, fragte der. Ihre spontane Antwort: Nö. Bisher ist sie ja ohne ausgekommen, eine Ausbildung hat sie nicht, mit 17 wurde sie das erste Mal Mutter. Liebmann, heute mit 39 Jahren bereits Oma, ist schwerbehindert, 50 Prozent steht in ihrem Ausweis. Der Magen, die Psyche. Sie deutet auf ihren Kopf. Wenn sie lacht, wie jetzt, wackelt der runde Körper vom Filzhut bis zu den roten Schuhen. Genau genommen dürfe sie gar nicht „normal“ arbeiten. So steht sie am Mittwochmorgen um zehn an der Bernauer Straße am Eingang zum Mauerpark. Zu ihren Füßen kaut Boxermischling Aisha auf einem roten Quietschgummitier.
Den Hund hat sich Nicole Liebmann durch Pfandflaschen finanziert. Dabei geht sie seit ein paar Jahren gar nicht mehr sammeln. Zwei Mal hat sie schlechte Erfahrungen gemacht. Am Boxhagener Platz wurde sie von Jugendlichen angegangen, im Volkspark Friedrichshain jagte ihr ein Vermummter nach. Liebmann hat sich auf Hausbesuche spezialisiert, im Internet auf der Seite pfandgeben.de (siehe Kasten), wo Pfandbesitzer Flaschensammler zu sich nach Hause bestellen können, um das Leergut abzuholen, nennt sie sich „Flaschenfee“. Manchmal nimmt sie ihre jüngere Tochter mit. Die gerade Elfjährige will einen Tablet-PC haben, den soll sie sich selbst verdienen. Zuletzt haben sie gemeinsam 83 Euro in Pfandflaschen bei einem Kunden aus der Küche abgeholt. Mutter, Tochter und Hund wohnen in Friedrichshain, Landsberger Alle. In Prenzlauer Berg aber gibt es mehr zu holen. Seit zwei Jahren ist Nicole Liebmann auf der Online-Plattform angemeldet, mittlerweile hat sie einige Stammkunden. Im Sommer wird sie häufiger angerufen als im Winter, durchschnittlich sechs bis sieben Mal im Monat. Zuletzt war sie wieder bei einer WG in der Wörther Straße, Stammkunden, gab eine Menge zu holen, der Anhänger des Fahrrads gut gefüllt. Im Edeka am Kollwitzplatz hat Liebmann die Flaschen in den Automaten geschmissen. Als auf der Anzeige 7,50 Euro erscheint, tippt ihr die Filialleiterin auf die Schulter. Mehr sei pro Tag nicht erlaubt, sie müsse jetzt gehen. Liebmann hat weitergemacht. „Das hätte ich ja gern gesehen, wenn die Polizei gekommen wäre.“ Liebmann gefällt die Vorstellung. So wie sie sich in der Rolle der Unangepassten, der Aufmüpfigen gefällt.
Sie holt das Pfandgut bei ihren Kunden ab - auf Zuruf
Auf dem Weg vom Mauerpark zur Schönhauser Allee wartet sie an jeder Straßenkreuzung, bis Aisha bei Fuß ist. Erst wenn kein Auto kommt, darf die Hündin gehen. „Verpiss dich!“, ruft Liebmann dann, die derben Worte klingen so herzlich, wie sie vielleicht nur eine gebürtige Berlinerin sagen kann. Der Hund rennt vor, Nicole Liebmann schlendert hinterher. Wenn sie noch mal richtig arbeiten würde, dann als Hundetrainerin. Die Ausbildung aber ist teuer. Also doch wieder mehr sammeln? Wenn jetzt hier auf dem Bürgersteig eine Plastikflasche stünde, sie würde sie mitnehmen. „Da könnte ich nicht widerstehen. Was ich nur nicht leiden kann, ist der Gestank.“ Dem ist sie bei ihrem anderen Job ständig ausgesetzt. Sie arbeitet bei einem Trödler, 1,50 Euro die Stunde. Erst gestern hat sie eine Wohnung ausgeräumt. „Da konnte man nur mit Maske rein, so hat das gestunken.“
Seit zehn Jahren macht sie das, fast jeden Sonntag steht sie auf dem Boxhagener Platz. „Immer nur Trödel, Trödel, Trödel, ich hab die Schnauze voll.“ Zum ersten Mal an diesem Tag wird Liebmann ernst. „Es wäre schön, wenn ich noch so leidenschaftlich wäre wie früher.“ Damals, als jede Wohnungsauflösung noch einer Schatzsuche glich. Immer in der Hoffnung auf den spektakulären Fund zwischen all dem Müll. Der Chesterfield-Tabak ist fast leer, aus den letzten Krümeln baut sie eine halbe Zigarette. Mit einem Quietschen reißt Aisha sie aus den trüben Gedanken. Vor den beiden kreuzt eine Straße den Gehweg. Liebmann begreift erst nicht, dann lacht sie und ruft: „Na, verpiss dich!“
Es hat sich so ergeben
Jens N., 58 Jahre
Beruf: Facharbeiter für den Betriebs- und Verkehrsdienst
Tageseinnahmen: bis zu 20 Euro an einem Freitag oder Sonnabend
Bevorzugter Sammelplatz: U-Bahn-Linie 8 zwischen Rosenthaler Platz und Kottbusser Tor
Die Beck's-Flasche liegt oben auf dem Mülleimer im U-Bahnhof Rosenthaler Platz. Jens N. nimmt sie, wiegt sie in der Hand und sagt dann, wie zu sich selbst: „Wenn mein Vater mich so sehen könnte, er würde sich im Grab umdrehen.“
Jens N., 58, ist in West-Berlin geboren, der Vater war Leiter einer Maschinenfabrik in Reinickendorf und wollte, dass der Sohn was Anständiges macht. Studieren, Maschinenbau, wenigstens aber BWL. Jens N. aber wollte Rechtssoziologie studieren. Am Ende wurde alles nichts, N. war intelligent, aber faul, die Schule beendete er nach der Mittleren Reife. Er machte eine Ausbildung bei der Deutschen Reichsbahn in Grunewald, Facharbeiter für den Betriebs- und Verkehrsdienst, mit 21 wurde er stellvertretender Rangiermeister, verdiente gut, 2000 DM netto. Mit 22 heiratete er, wurde Vater einer Tochter. Jens N. wollte Karriere machen bei der Bahn. In Berlin ging es ihm nicht schnell genug. „Du hast doch dein ganzes Leben noch vor dir“, haben sie ihm gesagt. Trotzdem ging er weg, Umzug nach Osnabrück. Dort wurde er Beamter auf Widerruf. Jens N. genoss die Entschleunigung, das Leben auf dem Land, seine Frau aber fand sich nicht zurecht. Nach einer Nachtschicht lag ein Zettel auf dem Nachttisch: „Ich will nicht mehr“.
Er reiste ihr nach Berlin hinterher, kündigte den Job. Der Vater war fassungslos: die Beamtenlaufbahn! Frau und Kind waren auch weg. Jens N. heuerte bei der BVG an, arbeitete zusätzlich bei Springer im Vertrieb. Dort machten sie ihm ein Angebot: Stellvertretender Bezirksleiter, Vollzeit. Da war er gerade 30, arbeitete rund um die Uhr. Er verdiente gut, 3000 DM netto. „Ich hatte aber keine Zeit mehr, das Geld auszugeben.“ Er schmiss hin.
Anfang der 1990er gründete er eine Detektei. Eine wilde Zeit. Einmal hat er eine minderjährige Prostituierte aus einem Bordell an der Hermannstraße befreit, sagt er. Ging einfach ins Büro, schoss zwei Mal in die Decke und verschwand mit dem Mädchen. Die Grenze zwischen legal und illegal verwische in diesem Job schnell. 15 Strafverfahren seien gegen ihn gelaufen, erst wurde er wegen Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, dann stand eines Morgens die Kripo vor der Tür: Schwerer Raub in Tateinheit mit Körperverletzung, so der Vorwurf. Für drei Jahre ging Jens N. in die JVA Plötzensee, die Detektei musste er aufgeben. 2000 kam er raus, arbeitete erst schwarz und gründete später eine Trockenbaufirma.
Das Geld liegt auf der Straße, er nimmt es mit
Er verdiente wieder gut, arbeitete wie ein Tier. Irgendwann machte das Herz nicht mehr mit, 2007 fiel Jens N. einfach um, Herzstillstand, sieben Minuten, ein Freund reanimierte ihn. Später im Jahr dann Herzinfarkte Nummer zwei und drei. Die Firma musste er aufgeben, N. wurde arbeitslos. Und kam wieder mit dem Gesetz in Konflikt. Ihm wurde vorgeworfen, eine alte Frau ausgeraubt zu haben. Jens N. sagt, dass er unschuldig sei. Wegen Raubs und der Anstiftung zum Meineid bekommt er fünf Jahre und vier Monate. 2013 wird er entlassen, wegen guter Führung. Jens N. stand vor dem Nichts. Er wohnte in einer Notunterkunft am Kottbusser Tor. An einem Wochenende, als er durch den U-Bahnhof ging, fielen ihm die Flaschen auf. Er nahm sie mit. „Das Geld lag einfach so auf der Straße.“ Mittlerweile lebt Jens N. von ALG II, doch er will weiter arbeiten. Ab Juni wird er einen Job antreten, als Baustellenkontrolleur, bis dahin sammelt er Flaschen, damit er über die Runden kommt. Er sammelt nur am Wochenende, meist nach Mitternacht, wegen der Konkurrenz. „Viele sammeln nur bis 0 Uhr“ – bis dahin können sie die Flaschen an den Supermärkten abgeben. Seine Tour beginnt N. am Rosenthaler Platz, von dort zu Fuß bis zur Weinmeisterstraße, zwei Stationen mit der U8 bis Jannowitzbrücke. Von dort läuft er bis zur Heinrich-Heine-Straße, dann zurück zum Rosenthaler. An guten Wochenenden macht er bis zu 40 Euro.
Dabei könnte Jens N. längst in Rente sein. Würde er heute den Antrag stellen, er käme auf 1600 Euro, vielleicht sogar mehr, behauptet er. Doch er habe bei Bekannten gesehen, was passiert, wenn Menschen in Rente gehen. „Sie werden alt.“ Jens N. raucht den ganzen Abend über Selbstgedrehte ohne Filter. Trotz mittlerweile neun Infarkten und einem Herzschrittmacher. Dennoch sieht man ihm seine 58 Jahre nicht an. Die vollen Haare werden zwar allmählich grau und die Dritten verrutschen beim Lachen ein bisschen, aber eine Falte sucht man in seinem Gesicht vergebens. Und Jens N. lacht viel. Wenn er seine Geschichten erzählt, von denen man gerne alle glauben möchte. Wenn morgen alles vorbei wäre, sagt er, wäre er nicht unzufrieden.
Die Texte erschienen in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin.