Nach Beschluss des Verfassungsgericht: Sind alle Corona-Bußgelder in Berlin ungültig?
Die Berliner haben bei Verstößen gegen die Eindämmungsmaßnahmen wenig zu befürchten – nicht erst seit dem jüngsten Beschluss. Der Senat will nun nachbessern.
Seit dem 2. April gelten in Berlin nicht nur Recht und Gesetz, sondern auch der lang diskutierte Bußgeldkatalog. Er sollte Verstöße gegen die Corona-Eindämmungsverordnung des Senats sanktionieren, teils mit Strafen bis zu 25 000 Euro. Doch seit dieser am Dienstag im Eilverfahren vom Verfassungsgerichtshof für teilweise ungültig erklärt wurde, herrscht große Unsicherheit in den Ordnungsämtern der Bezirke.
Vorläufig werden wohl keine Bußgelder für Verstöße gegen das Abstandsgebot von 1,50 Metern eingetrieben. Zwar wollte der Senat am Donnerstagabend eine neue und rechtssichere Version beschließen. Doch auch so stellt sich die Frage, ob die bisher verhängten Bußgelder überhaupt bezahlt werden müssen.
„Das können und dürfen wir nicht beurteilen“, sagt die Sprecherin des Verfassungsgerichtshof, Simone Köhler. Dabei werden die Juristen offenbar mit dieser Frage konfrontiert. Viele Bürger mit Bußgeldbescheiden hätten bereits angerufen, ebenso Teilnehmer diverser Demonstrationen gegen die Maßnahmen.
Das Gericht habe aber lediglich festgestellt, dass momentan für Bußgelder für Verstöße gegen das Abstandsgebot die Rechtsgrundlage fehle. Ob dies auch rückwirkend gelte, sei unklar. „Es ist durchaus möglich, dass wir uns damit irgendwann auch noch beschäftigen müssen“, sagte die Sprecherin.
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Die Frage, wie viele Bußgeldbescheide in Berlin erteilt sind, ist ebenso unklar. Auch die Zahl der noch offenen Verfahren. Die Polizei, die für die Durchsetzung der Regeln zuständig ist, hat Anfang der vergangenen Woche damit aufgehört, die Verstöße zentral zu erfassen und mitzuteilen.
Viel mehr Verstöße in Bayern
Der Stand vom 18. Mai: Seit dem 23. März wurden 3007 Ordnungswidrigkeiten als Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz festgestellt. Vergleichsweise wenig: In Bayern, wo rund 13 Millionen Menschen leben, hat die Polizei etwa im gleichen Zeitraum 57 502 Verstöße dokumentiert.
Hinzu kommt: Von den rund 3000 Ordnungswidrigkeiten münden nicht alle in Bußgeldern. Zuständig für die Bewertung und das Eintreiben der Bußgelder sind die Ordnungsämter der Bezirke. Doch dort habe man den Bußgeldkatalog bereits frühzeitig für juristisch schwierig bewertet, heißt es aus mehreren Ordnungsämtern. Deshalb habe man sich mit Bescheiden zurückgehalten.
In Kreuzberg wurde noch kein Bußgeld bezahlt
So wurden in Marzahn-Hellersdorf bislang 59 Verwarn-- und Bußgelder in Höhe von insgesamt 3350 Euro erhoben. Wie viel davon bereits abgeschlossen, sprich überwiesen wurde, konnte die zuständige Bezirksstadträtin zunächst nicht mitteilen. In Neukölln wurden 520 Fälle aufgenommen, „fast alle“ würden sich auf Missachtungen des Mindestabstands beziehen, sagte ein Sprecher. Ob diese noch rechtskräftig sind, wisse man nicht und verweist auf die Innenverwaltung. Dort wiederum verweist man auf den Senat, der am Abend beraten wollte.
Auch in Friedrichshain-Kreuzberg hatte man im Ordnungsamt juristische Bedenken. Von den 444 eröffneten Verfahren im Bezirk führten lediglich 90 zu Bußgeldern. „Da noch keine Rechtskraft eingetreten ist, sind noch keine Bußgelder bezahlt worden“, sagte eine Sprecherin. Man hoffe auf eine zeitnahe Präzisierung durch den Senat. Anfragen in Tempelhof-Schöneberg und Reinickendorf blieben unbeantwortet, in Mitte habe man keine Zahlen.
Polizeigewerkschaft kritisiert Senat: Arbeit für die Tonne
„Auf die polizeiliche Arbeit hat der Beschluss des Verfassungsgerichtshofes keine Auswirkung“, sagt ein Polizeisprecher auf Anfrage. Das Gericht habe den Bußgeld-Katalog einkassiert, nicht den Mindestabstand.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisiert den Senat für die schwammigen Formulierungen. „Es muss Handlungssicherheit geben, damit die Kollegen nicht für den Papierkorb arbeiten“, sagte GdP-Sprecher Benjamin Jendro. Die Polizisten hätten sich für die Einhaltung der Regeln in Gefahr begeben, teilweise wurden sie angegriffen. Er warnt vor den Folgen des Urteils: „Es kann nicht sein, dass sich die Polizei auf der Straße für jede Handlung rechtfertigen muss.“
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Gegen die Eindämmungs- und Bußgeldverordnung hatte ein Rechtsanwalt in eigener Sache geklagt – und den Senat zumindest bei der Bußgeldverordnung bloßgestellt. Die war vom Senat zu schwammig gefasst. Mehrere Formulierungen – „absolut nötiges Minimum“ und „soweit die Umstände dies zulassen“ – seien zu unbestimmt, befanden die Verfassungsrichter.
Obgleich sie die Eindämmungsmaßnahmen und den überwiegenden Teil der Bußgeldvorschriften nicht aufgehoben haben. Das Ergebnis: Wer sich umarmt, was gegen die Eindämmungsverordnung verstößt, bekommt kein Bußgeld. Die Richter kritisierten auch, dass der Bußgeldkatalog, der Zahlungen von bis zu 25.000 Euro bei Verstößen vorsieht, trotz zwischenzeitlich beschlossener Lockerungen nicht entschärft wurde. So warnte der Bußgeldkatalog beispielsweise auch am Donnerstag noch vor dem Anbieten touristischer Übernachtungen und der Öffnung von Schwimmbädern und drohte mit bis zu 10.000 Euro Strafe für die Betreiber.