zum Hauptinhalt
Anonyma im Film. In Petra Tschörtners „Berlin Prenzlauer Berg“ (Anbieter: Edition Salzgeber, erhältlich auch im Tagesspiegel-Shop, Mo - Fr 9 - 18 Uhr, oder unter www.tagesspiegel.de/shop) von 1990 gibt es eine Sequenz, in der eine dort nicht weiter benannte Frau im damaligen Wiener Café in Prenzlauer Berg tanzt und singt. Heute wissen wir: Das war „Titten-Gitti“, verstorben 2005.
© Stills: Salzgeber & Co. Medien GmbH

Suche nach einer Legende: Sie nannten sie Titten-Gitti

Honeckers erstes It-Girl, Edelhure, Operndiva, Stasi-IM: In Prenzlauer Berg ranken sich bis heute Legenden um die Frau, die bürgerlich Brigitte Klingmann hieß.

Ganz am Anfang war es ein Spiel. Im Taxi, durch den Osten Berlins immer dieselbe Frage an den Fahrer: Kennen Sie Titten-Gitti? Ein Name, über den wir gestolpert waren. Kneipennächte im Prenzlauer Berg. Immer wieder.

Wichtig war dabei, dass der Taxifahrer mehr als 20 Jahre im Geschäft war. Kutscher schon hinter der Mauer. Männer, die mit der Zeit das Gelb ihrer Kunstfellbezüge angenommen hatten. Sie reagierten auf den Namen. Unmittelbar. Ausschweifend. Erinnerten sich, fuhren rechts ran, fuchtelten die Silhouette einer Frau in die Luft, riesengroß, Riesenbrüste, in jeder Kneipe bekannt.

Eine ehemalige Hure, sagten sie. Ein Mannequin, sagten sie, Honeckers erstes It-Girl. Eine Frau, die, früher höchst attraktiv, später, nach einer Messerattacke eines eifersüchtigen Ex-Liebhabers, auf Krücken gestützt durch den Prenzlauer Berg trieb, ständig unterwegs zwischen Lychener, Schliemann- und Dunckerstraße. LSD-Viertel, Bermudadreieck. Alkohol in der Luft. Wiener Café, Mosaik, Seifen und Kosmetik.

Die guten alten Läden, die gute alte Zeit. Andere Fahrer erinnerten sich an eine Frau, Schwerstalkoholikerin, die einen ganzen Supermarkt leer räumte, und dann, die Kassiererinnen ignorierend, den Wagen auf die Straße schob, um das nächste Taxi anzuhalten. Eine Zechprellerin, die als Bezahlung ganz einfach ihre Brüste auspackte. Zitierten die Funksprüche, mit denen sie sich gegenseitig vor Gitti warnten, von der sie wussten, dass sie wieder nur diese 500-Mark-Note dabei haben würde, Trinkgeld und Freifahrtschein, die natürlich niemand wechseln konnte. Also: Pass Uff. Die Prenzlauer lieber weiträumig umfahren. Da steht Gitti. Mit den Krücken.

Wo zu Gittis Zeiten noch 120 Jahre Knast am Tresen lehnten, essen heute Touristen.
Wo zu Gittis Zeiten noch 120 Jahre Knast am Tresen lehnten, essen heute Touristen.
© Stills: Salzgeber & Co. Medien GmbH

Und sie taten all das mit einer solchen Hingabe, die Bilder blumig, die Pointen sauber getimt, als hätten sie die ganze Zeit nur darauf gewartet, dass endlich jemand kommt und fragt.

Mehr als fünf Jahre ging das, bis sich Gitti als Figur verselbstständigte. Wir wussten nun viel und irgendwie doch: nichts. Was aber war wirklich dran, an diesem Kiezgeflüster, das sich über Hörensagen und im Promillenebel der Jahre zu Legenden verfestigt hatte. Rein also in den Prenzlauer Berg, in seine Geschichte und Geschichten. Spurensuche im Damals und was noch davon übrig ist. Kennen Sie Titten-Gitti?

Erster Versuch: Schusterjunge. Steht dort, wo eine solche Kneipe stehen muss: an der Ecke. Lychener und Danziger, am Rand des LSD-Viertels. Gut für einen Anfang, weil der Schusterjunge einer der wenigen Läden ist, die es schon vor der Wende gab.

Zwischen dem Tresen, altdeutsch, dunkles Holz, und der Durchreiche zur Küche, Tagesempfehlung Rouladen, steht Silvie. Die Kellnerin. Und es ist schnell klar: Gitti kann auch sie nur mit zwei Händen beschreiben. Hände, die erst ausladend vor die Brust geführt werden, die Finger gekrümmt: „Solche Kaventsmänner.“ Und dann, in einer flüssigen Bewegungen zuckend am Körper vorbei wie eine Trockenübung zum Barrenturnen: die Krücken, „ihre Kalaschnikows“. Natürlich kennt sie die. „Aus’m Usbekischen Gasthof. Aus den Achtzigern.“ Sie weist in Richtung der Tische am Fenster: „Später saß sie dort und hat mit den Männern getrudelt, Karten gespielt, die ganze Nacht. Hatte ihr Geld und ihre Zigaretten immer hier oben drin.“ Griff ans Dekolleté. Silvie wird jetzt warm, muss aber erst mal Biere zapfen.

Inkompatibel, aber nicht planlos: "Sie bekam immer, was sie wollte", sagen die, die sie kennen.
Inkompatibel, aber nicht planlos: "Sie bekam immer, was sie wollte", sagen die, die sie kennen.
© Stills: Salzgeber & Co. Medien GmbH

Als sie wieder zu sprechen beginnt, Hand am Hahn, über den Tresen hinweg, schnell, ohne Pausen, prasselt mehr als ein halbes Leben Gastronomie auf uns ein. Namen und Orte. Jahreszahlen. Vortrag über die Suffkultur in der DDR. Dann aber, großer Schlenker, doch wieder zurück zu Gitti. Konzentration jetzt. „Sie kam immer bei uns in den Laden. Wie eine Schauspielerin. Mit ganz viel Brimborium. Und hat erzählt, sie sei die Spätverlobte von Manfred Krug.“ Silvie legt den Kopf in den Nacken, hält sich die Hand an die Stirn, simulierter Schwächeanfall. Schauspielerinnen-Gestus. Sie tanzt die Gitti. Brimborium eben. Der Vorhang fällt mit einem Kellnerinnenlachen. Spätverlobte von Manfred Krug, das glaubste doch selbst nicht. „Leute wie Gitti, die wollten sich auch einfach darstellen. Davon gab es einige“, sagt Silvie und beginnt mit der Aufzählung ihres eigenen Kuriositätenkabinetts. Otto, der im Gesicht tätowiert war. Rio, der sich allen Ernstes für Rio Reiser hielt. Die Nachtigall, Mausi, usw. Und auf einmal sind wir mittendrin in dem Damals-und-heute-Vergleich. „Gitti hatte diese Kodderschnauze, hat sich nichts gefallen lassen, schon mal jemandem ins Süppchen gespuckt. Damit steht sie natürlich auch für ein Ostberlin, das es so gar nicht mehr gibt.“ Blick hinter die Fenster. Danziger Straße, Verkehrsbrausen, Kulturbrauerei und Backshop. „Es gibt einfach keinen Ort mehr für solche Figuren, und außerdem…“ Silvie wird durch das Dröhnen des Kochs unterbrochen, Schnitzel auf der Durchreiche. Ja, gleich. Den einen Satz möchte sie jetzt noch ganz gerne beenden. „Und außerdem sind die doch alle weg. Gestorben. In der Klapse. Viele haben die Wende einfach nicht verkraftet.“ Dann geht Silvie und bringt das Schnitzel nach hinten, wo junge Asiaten und Amerikaner an langen Tischen warten.

Wir gehen auch, begleitet von diesem Gedanken: Selbst der Schusterjunge ist nicht mehr der Ort für die Trinker aus der Nähe, an dem man noch unter sich ist. Geschlossene Gesellschaft. Denn hier, wo früher in den Nächten nicht selten 120 Jahre Knast am Tresen lehnten, Möbelluden mit dicken Ringen an wurstigen Fingern ihre Tageseinnahmen versoffen, bestellt heute die Jugend der Welt auf Empfehlung des Lonely Planet urdeutsches Essen. Um Gitti zu verstehen, brauchen wir jedoch das alte, das schmutzige, das Figurentheater Prenzlauer Berg.

Mit Strahli am Helmholtzplatz

Strahli ist noch einer von früher. Wir treffen ihn am Helmholtzplatz, einige Tage später. Es hat ein wenig gedauert. Denn Strahli, der Trickster, Wandler zwischen den Welten, ist keiner, den man einfach erreicht. Er hat nicht zu jeder Zeit eine verlässliche Telefonnummer und sein Leben keine festen Zeiten. Wenn man sich mit ihm verabreden will, klebt man am besten einen Zettel an seine Tür. Und wartet. Bis er sich meldet. Der Prenzlauer Berg ist sein Ding. Er, geboren am Stadtrand, Kaulsdorf-Hessenwinkel, gutbürgerliche Reihenhausidylle, ist Ende der 80er hergezogen. Wegen der Freiheit, dem Punk, dem ganzen Irrsinn, der hier so abging. Kurzer LSD-Trip, Geschichtsstunde. „Früher war das hier das ranzigste und abgewichsteste Gebiet in Ostberlin. Klo eine halbe Treppe tiefer, das sagt doch eigentlich schon alles.“ Er schaut sich um. „Wenn die Leute aus dem Knast kamen, sind sie hierhergezogen.“ Die Straßenzüge, die Hinterhäuser und Seitenflügel zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee waren einmal das Biotop der Kaputten, der Hausbesetzer, Freidenker-Country. Davon ist nichts mehr zu sehen. Selbst der Helmholtzplatz, einst Alkoholikersammelstelle, ist heute, Lunge des Bezirks, eher Familienspielplatz. Bisschen Sommer vorm Balkon. Besenreine Normalität. „Hat sich eben alles verändert.“ Hörbare Wehmut. Und dennoch Worte ohne Kanten. Strahli, Dreadlocks unter einer alten Wollmütze, Ostpunk, das Gesicht die Visitenkarte eines Musikerlebens, scheint gänzlich aus Tönen zu bestehen. Ihm ist eine Stimme zu eigen, sonor, die den Zuhörer sofort umschließt, eine Decke gewebt aus Geschichten. Eigentlich müsste er mit dieser Stimme Märchen erzählen. Und im Grunde macht er ja genau das. Strahli, Kiezmärchenerzähler. Wir haben ihn gesucht, weil er, Quelle Hörensagen, Gitti gut kannte.

Besser als die anderen, an denen sie nur ein paar Mal vorbeigerauscht ist. Getroffen hat er sie 1989, irgendwo, irgendwann in der Nacht, und sich dann, kann man so sagen, mit ihr angefreundet. Ein ungleiches Duo. Sie, damals schon über die 50 hinweggelebt, er gerade 19 Jahre alt. Logische Frage: Warum? Er überlegt nicht lang: „Es hat mich einfach fasziniert, dass sie existiert. Weil sie inkompatibel war. Total durchgeknallt. Aber nicht planlos. Sie hat immer bekommen, was sie wollte. Und wenn jemand versucht hat, ihr auf die Intellektuelle zu kommen, hat sie den mit einer Schlagfertigkeit bloßgestellt, dass er ganz schnell die Klappe gehalten hat.“ Er mochte sie. Die Figur einer unmöglichen Mutter. Und holt nun noch einen Schatz aus seinem Erinnerungskästchen. „Später“, sagt er „war ich dann auch mal bei ihr in der Wohnung. Zusammen mit Paul und Micha. Die können sich auch noch gut erinnern.“ Die Jungs von früher. Er hat auch sie länger nicht gesehen. Gitti wäre da doch ein guter Grund, mal wieder alle an einen Tisch zu holen.

Veteranentreffen. Und dann, auf diesen Tisch, die Erinnerungen klatschen. Wunderbare Idee. Das sollten wir, bitteschön, genauso machen.

Jut, Strahli packt sich selbst zusammen, will sich melden. Das kann ein paar Tage dauern, das ist klar.

Bei den Nachbarn hieß sie Fünf-Mark-Gitti, weil sie für fünf Mark den Rock hochgemacht haben soll.
Bei den Nachbarn hieß sie Fünf-Mark-Gitti, weil sie für fünf Mark den Rock hochgemacht haben soll.
© Stills: Salzgeber & Co. Medien GmbH

„Schaut doch in der Zwischenzeit mal bei der alten Wohnung vorbei“, sagt er da noch und wirft uns zum Abschied, ganz beiläufig, die Adresse hin. Grellstraße 10B, nicht weit von hier. „Die hieß Klingmann oder Klingbeil, einfach mal fragen.“ Tricksterabgang. Tschüssikowski.

Danke, wir werden hingehen. Aber heute nicht mehr. Im Osten, über den Bäumen am Helmholtzplatz, geht bereits die Sonne unter.

Die Stimmung im Keller

Nächster Morgen am S-Bahnhof Prenzlauer Allee, Menschen in Winterhast, es ist zehn Uhr, der Tag düster, allgegenwärtiges Grau. Der Eingang zu den Häusern der Grellstraße liegt genau gegenüber. Grau auch die Fassaden, DDR-Kratzputz. Hinterhofdepression, an S-Bahngleise gelehnt. Zweckmäßig hässlich. Wir laufen über verwildertes Kopfsteinpflaster. Erstes Haus auf der rechten Seite. 10B. GSW-Schild an der Tür. Einfach mal klingeln. Doch niemand öffnet. Heruntergelassene Rollläden. Im zweiten Stock Gardinen, einst weiße Rüschen, unweigerlich fühlen wir uns beobachtet. Inoffizielle Blicke. Sonst aber keine Regung hinter toten Fenstern. Aus dem Nichts schiebt sich eine blonde Frau vor die Trostlosigkeit. Wir fragen nach. Klingmann oder Klingbeil, ob sie sich erinnern könne. Die Frau nickt.

Antwortet mit der Gitti-Pantomime. Brüste und Krücken. „Aber die hat da drüben gewohnt“, sagt sie, leichte Kopfbewegung hin zum Nachbarhaus. 10D. Da, ganz sicher. Schönen Tag noch. Also rüber, wieder klingeln, die ganze Hand aufs Klingelschild, warten, vor allem aber: hoffen. Ganz nah dran. Grellstraße 10D, Home of Gitti. Und tatsächlich: Es summt. Die Tür springt auf, im Hausflur geht das Licht an. Dort, Parterre, drei Stufen über uns, steht einer und schaut. Reichlich Mensch, die Haare zurückgegelt. Argwohn in grauer Jogginghose. Darüber ein gestreiftes Hemd. Er steht da, mitten am Tag, als hätte er schon seit Jahren Feierabend. Standardfrage. Kennen Sie? Fleischige Hände streichen über glänzendes Haar. Ein Nicken. „Gitti? Ja, die hat hier oben gewohnt. Eine Treppe.“ Nur mit dem Spitznamen Titten-Gitti kann er erst mal nichts anfangen: „Bei uns hieß die Fünf-Mark-Gitti, weil sie früher wohl für fünf Mark inna Ecke den Rock hochgemacht hat.“

Nirgends Stammgast. Überall Inventar: Gitti zog von Kneipe zu Kneipe.
Nirgends Stammgast. Überall Inventar: Gitti zog von Kneipe zu Kneipe.
© Stills: Salzgeber & Co. Medien GmbH

Er, der Nachbar, lebt erst seit 16 Jahren hier. Seine Gitti ist älter als die der anderen, keine Kneipendiva mehr. „Das war so eine Ostberliner Omi, massig, und hat gerne einen getrunken. Das war ein richtiges Berliner Original. So Zille-Milieu.“ Im Hausflur geht das Licht aus. Er drückt den Schalter, spricht weiter. „Und ständig hat sie ihre Schlüssel verloren. Sie hat dann, immer wenn sie morgens um zwei aus der Kneipe gekommen ist, bei mir geklingelt.“ Sein Blick klettert die Stufen empor. „Dann musste sie im Hausflur schlafen, weil sie nicht mehr in ihre Wohnung kam. Sonst habe ich aber kaum mit ihr verkehrt, habe sie nur rinjelassen. Guten Tag, auf Wiedersehen.“ Kurzer Moment der Andacht. „Die muss eigentlich noch ihren Keller haben, da unten“, sagt er schließlich, geht seinen Schlüssel holen und führt uns die paar Stufen hinab vor eine Holztür, die nicht anders aussieht als alle anderen Holztüren im schalen Schein der Glühbirnen.

Doch hängt dort, mit einer Reißzwecke befestigt an einer der Latten, schwarze Schönschrift auf vergilbtem Grund: Klingmann, 1 Treppe rechts. Wieder andächtiges Schweigen. Das muss ihre Schrift sein, geschwungen und eckig zugleich. Geschrieben, und viel passender könnte es gar nicht sein, auf die Rückseite eines Gaststättenschuldscheins. Prenzlauer Eck. Ein Leben auf DIN A6. Die Stimmung, im Keller, ist jetzt hervorragend. Und der Nachbar nimmt den Faden wieder auf, an dem wir uns hier heruntergehangelt haben. „Prenzlauer Eck, da war sie oft, auch im Grelleck. Später konnte nicht mehr laufen, hat dann Tag und Nacht am Fenster gehangen. Im Pelzmantel, wenn es geschneit hat.“ Hatte sie Freunde hier im Haus? „Die unter ihr hat sich gekümmert, da ist sie dann manchmal runter und hat sich Geld geliehen. Aber die ist schon lange tot, und auch sonst wird hier keiner mehr von den Alten sein. Die haben sich schon alle ihre Leber zu Hartjummi gesoffen.“ Da ist sie wieder, die Litanei der Vergänglichkeit, die schon im Schusterjungen angeklungen war. Wo sind all die Alten hin? Und natürlich, zwangsläufig, drängt die eine Frage an die Oberfläche. Was ist mit Gitti, lebt sie noch? Seit wann ist sie weg? Der Nachbar zuckt, spricht mit den Schultern. Weeß ick nicht. „Ich weiß nur, dass sie eines Nachts abgeholt und ins Krankenhaus gebracht wurde. Danach habe ich sie nie wieder gesehen.“ Die Glühbirne erlischt, wir steigen wieder hinauf, verabschieden uns. Und draußen, verwildertes Kopfsteinpflaster, graue Luft, kommt das Gefühl, Gitti ganz nah gewesen zu sein. Klingmann, 1 Treppe rechts. Gruß in Schönschrift. Es beginnt wieder zu schneien. Pelzmantel-Wetter. Wir schauen noch einmal zurück, die Fassade entlang, zählen die Fenster. Sie sind allesamt geschlossen.

Strahli, Micha, Paul

Und nun: Warten auf Strahli. Es vergehen Tage und Nächte, in denen wir uns durch den Kiez hangeln, flüchtige Begegnungen, Nachtgestalten, Sätze in kalten Rauch gesprochen, sie verschwimmen zu einem Mosaik aus Erinnerungen. Orte und Gesichter. Der Russe, der in einer schummrigen Bar sitzt, die von außen kaum als solche zu erkennen ist und sich den nächsten Joint aufstreut. Der schwere russische Akzent dehnt seine Worte: „Kännst du“, sagt er, „kännst du die Kunst von Otto Dix? Und die Bücher von Bert Brecht? So eine Frau war sie. Berliner Genetik, laut und vulgär.“ Der Philosoph im Imbiss, der auch nachts seine Sonnenbrille trägt, sich ans Herz fasst. Infarkt. Lange her. „Seitdem habe ich mit Alkohol, Zigaretten und Stasischlampen nichts mehr am Hut.“ Und Gitti, das wissen doch alle, war bei der Stasi. Der ehemalige Gaststättenleiter der Pappel, der das Gespräch mit demselben Vorwurf beginnt: „Sie wissen, dass die bei der Stasi war?“ Und dann erzählt, wie Gitti einmal die Tür eingetreten und einem anderen Gast an der Theke links und rechts eine geknallt hat, mit der simplen Begründung: Wenn hier einer laut ist, dann ich. Wie aber nichts passiert ist, weil sie eben bei der Stasi gewesen sei. Und er trotzdem viele Nächte mit ihr Karten gedroschen hat. Er, wie sie, ein Spieler.

Oder die drei Männer am Tresen des Yolanda, die von der Opernsängerin Donna Kaputti sprechen, von dieser Hure aus dem Westen und doch Gitti meinen. Sie hatte viele Namen, viele Bühnen, viele Zuschauer. Sie alle haben mit ihr gesoffen, getanzt, gezockt. Und mit jeder Geschichte scheint es weniger unrealistisch, dass sie in der nächsten Bar sitzt, Körnchen auf dem Tisch, Zigaretten im Ausschnitt. Es ist, als wäre sie uns immer ein paar Stunden voraus, gerade erst da gewesen. An diesem Tresen, in jener Kneipe.

Weitergezogen, wie sie es immer getan hat. Nirgends Stammgast. Überall Inventar.

"Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Stasi an ihr interessiert war, dazu war sie letztendlich zu selbstbezogen“, sagen die Freunde von früher.
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Stasi an ihr interessiert war, dazu war sie letztendlich zu selbstbezogen“, sagen die Freunde von früher.
© Stills: Salzgeber & Co. Medien GmbH

Als sich Strahli endlich meldet, Treffen bei Micha in der Küche, nehmen wir all das mit, diesen Rucksack aus Gerüchten, mehr noch als am Anfang. Manfred Krug, Opernsängerin, die Stasi. Am Tisch der Veteranen gibt es einiges zu besprechen. Und Strahli, das sagte er am Telefon, hat noch eine Überraschung dabei, etwas ganz Besonderes. Wir sind gespannt.

Ein Samstag im Januar. Punkt 12, Stargarder Straße. Strahli ist bereits da, mahlt Kaffee mit einer alten Kaffeemühle. Micha, Gastgeber, Künstler, der in seinen weiten Kleidern, Kommunenoutfit, fast verlorengeht, steht am Herd, gießt Wasser in einen Edelstahltopf. Grüner Tee. Lächeln durch kreisrunde Brillengläser. Schön, dass ihr da seid. Als das Wasser kocht, klingelt es. Tür auf. Jetzt kommen auch die anderen. Paul und Ronny. Der eine, Paul, klein, dunkelhäutig, Vater Südafrikaner. Der andere, Ronny, größer, Noch-Immer-Pferdeschwanzträger. Musiker auch sie, Künstler. Begrüßen sich mit dem gezügelten Enthusiasmus alter Freundschaften. „Wir waren früher ein Kollektiv, haben alle als Tresenleute im Schliemann-Café gearbeitet“, erklärt Strahli. Das Schliemann-Café, eigentlich „Seifen und Kosmetik“, damals Schliemannstraße 21, ist der Mittelpunkt ihrer Geschichte. „Der Hort allen Übels“, sagt Paul. „Und da schlug Gitti eben manchmal auf.“ Schnörkellose Überleitung. „Als ich sie dort zum ersten Mal gesehen habe, hieß sie schon Titten-Gitti. Und bald habe ich auch herausgefunden, warum.“ Ja, ja, wenn’s ans Zahlen ging, erstmal die Titten auf den Tisch. Wissende, plötzlich auch verschämte Jungsblicke in erwachsen gewordenen Gesichtern. Sie rattert nun, die Rückblicksmaschine.

Micha steht auf, stellt ein Einweckglas auf den Tisch. Darin Kräuter zur Verfeinerung der immer wieder zu drehenden Zigaretten. Gehört dazu. Erinnerungsbeschleuniger. Doping für die Jahre.

Können wir also nun, alle versammelt, über die Wohnung sprechen. Wie hat Gitti gelebt? Wollen wir nach der Visite im Keller doch ganz gerne wissen. Gitti hat die vier damals, nach einer dieser Schliemannnächte, viel Alkohol, viel Geschwafel, im Morgengrauen mit nach Hause genommen. „Wir waren zu müde, uns zu wehren“, erinnert sich Paul. So standen sie schließlich, etwas unbeholfen, in ihrem Wohnzimmer, Klingmann, 1 Treppe rechts. Und? Nichts.

Die Mär von der bürgerlichen Diva

Strahli: Ich weiß auch nicht mehr, ob ich erwartet habe, dass da bei ihr jetzt eine Kristallkugel auf dem Tisch steht, aber zumindest irgendeinen Hinweis auf dieses Leben da draußen.

Kein Hexenbordell, keine Kirmesbude. Stattdessen geordnete Bürgerlichkeit. Klassische Schrankwand, Sitzgruppe, Couchtisch, Riesenfernseher. „Ein neuerer“, sagt Paul „also kein Raduga. Und sonst war da auch nichts schmuddelig.“

Strahli: Auffallend war das Fehlen von erkennbar Persönlichem. Also, dass sie, watt weeß icke, Schrubber sammelt oder sowas. Oder ein Bild von der Familie in der Küche. Da war nichts Besonderes, nichts Obszönes.

Micha: Stell’ dir einfach eine 80er-Jahre-DDR- Wohnung von so einer Tante vor.

Strahli: Und dann erstmal Leberwurststullen und später Eintopf für ihre Jungs.

Paul: Es passte jetzt nicht unbedingt zu dem, was man mit ihr in der Nacht erlebt hat.

Strahli: Sie konnte aber auch dieses Verwahrloste auf den Tod nicht ab. Sie war ja eine Grand Dame. Eine echte Diva.

Klingt, ganz ehrlich, ziemlich verwirrend. Die Mär von der bürgerlichen Diva.

Noch immer macht das alles keinen Sinn. Diva, Osttante, Opernsängerin, vielleicht einfach nicht zu fassen für eine Gesellschaft, deutschdemokratisches Denken in kleinen Karos, die Gittis Auftritt überforderte. Die Halbweltkoketterie, die Inszenierung der eigenen Gala. War ihr unsteter Lebenswandel, die aufreizende Dringlichkeit ihres Körpers, das betont Asoziale in ihrem ständigen Sprung aus der Torte, ja auch ein Schlag in die Fresse des realen Sozialismus. Schallend. Das Gelächter danach. Ziviler Ungehorsam in Doppel-D. Mindestens.

Natürlich kennen die Jungs die Gerüchte, die Hurengespräche. Gitti-Wissen. Was war sie denn nun?

Strahli: Sie war geballte Mystik, weeßte. Manne Krug, Donna Kaputti, das war ihr Repertoire.

Ronny: Wurde zum Beispiel die Polizei gerufen und die Tür ging uff, dann hat sie immer gesagt: Meine Herren, ich habe Sie kommen lassen. Wenn sich die Beamten dann mit dem Barpersonal unterhalten wollten, hat sie auf den Tisch gehauen.

Strahli unterbricht ihn, schreit mit verstellter Stimme, miauend fast, durch die Küche: „Das kann doch nicht wahr sein! Wissen Sie denn gar nicht, wer ich bin? Ich bin Donna Kaputti, die Tochter von Herrn Doktor Irre. Ich bin die Verlobte von Manfred Krug. Schauen Sie mal in die Sonne, da schiebt sich ’ne grüne Scheibe vor - Das bin ich! Hossa! Mir wird langweilig im Maul.“

Dann wieder im Strahli-Ton: „Das war ihre Platte, die ging einfach an und lief dann so als Endlosschleife zur Verwirrung. Damit mussteste erst mal klarkommen. Und wenn man dann gegrübelt hat, hat se eenen schon gehabt.“

Micha: Du kannst ja ihre Stimme gut nachmachen. Haste gut gemacht, ey. Wie so’n Medium.

Ganz kurz ist Ruhe. Strahlis Performance hallt noch nach. Gitti ist jetzt, wo vier in ihrem Namen versammelt sind, mitten unter ihnen. Also weiter, eine Schippe drauf. Die Stasivorwürfe. IM Gitti, was halten die Jungs davon?

Mächtig, eine Erscheinung. Das Haar toupiert, die Augenbrauen dunkel nachgezogen.
Mächtig, eine Erscheinung. Das Haar toupiert, die Augenbrauen dunkel nachgezogen.
© Stills: Salzgeber & Co. Medien GmbH

War das vorstellbar? Sie schauen sich an, als versuchten sie, die Antwort, die eine Wahrheit, jeweils in den Gesichtern der anderen zu finden. Micha spricht zuerst, kopfschüttelnd: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Stasi an ihr interessiert war, dazu war sie letztendlich zu selbstbezogen.“ Strahli wischt über die Zweifel, wieder betont in die oberen Tonlagen gezogene Gitti-Stimme: „Ich kenne Manfred Krug! Ich kenne Markus Wolf! Das ist meine Firma. Sie möchten mich noch mal einstellen, aber bitte sehr, gerne. Sie haben meine Kontonummer bereits. Fragen Sie mal ihren Chef, rufen Sie mal an. Ich habe Informationen. Wenn ich mal auspacke, ich kann Ihnen sagen, geht die ganze Bude hoch.“ Schallendes Gelächter jetzt. Großartige Einlage. Genauso kann es gewesen sein. Ach, Gitti. Ronny ringt um Fassung: „Also, wenn sie da Mitarbeiterin war, dann werden sie auch da ihren Spaß gehabt haben.“ Nur Paul hat eine ganze Weile nichts gesagt, Skepsis in den Zügen. Nachdenklichkeit: „Für mich ist das relativ unwichtig, ob sie jetzt bei der Stasi war. Mich haben all diese Gerüchte auch nie interessiert. Das gehörte einfach zu ihrer Mystik.“

Ein Satz, der in dem allgemeinen Aufruhr fast untergeht, im Grunde aber genau die Antwort ist, auf die Frage nach dem, was Gitti eigentlich war. Weil es egal ist, ob diese Geschichten stimmen, die sie vielleicht nicht einmal selbst geglaubt hat, die sie aber doch umgeben haben wie einen Panzer. Geschichten, die nie nur für sich stehen, sondern für das alte Ost-Berlin, die kollektive Vergangenheit der anderen. Kondensiert in dieser einen Figur, so allgemein, so fabelhaft, und in all ihren Identitäten, ich bin viele, mit denen sie, ganz leichtfüßig, ganz bewusst gespielt hat. Der Glamour, dick aufgeschminkt, nur Fassade, dahinter eine Frau, die immer unter Menschen und doch einsam war. Schließlich aber, gerade dadurch, größer als das Leben selbst, weil sie, bis heute, sonst wären wir nicht hier, durch die Menschen hindurch lebt, die das Publikum bildeten für dieses ganz große Gitti-Theater.

Von einer inoffiziellen Mitarbeiterin Brigitte Klingmann, das ergibt unsere Recherche Tage später, weiß man bei der Jahn-Behörde nichts.

Plötzlich ist Gitti wieder da

Es ist Strahli, wer sonst, der uns zurückholt an den Tisch, die Gedankenblase platzen lässt. „Ich habe ja noch was für euch.“ Stimmt, wir waren ja gespannt. Das Besondere. Der Trickster hat, große Verwunderung, tatsächlich Wort gehalten, aus dem Nichts, aus seiner Wollmütze einen Film gezaubert. „Berlin Prenzlauer Berg“, ein Dokumentarfilm der im vergangenen Jahr verstorbenen Regisseurin Petra Tschörtner. Zeremonienmeister Strahli mit einer kurzen Einführung: „Sie war da 1990, kurz vor der Währungsunion unterwegs im Prenzlauer Gebirge, hat da die Leute gefilmt. Noch in Schwarzweiß. Unter anderem auch Gitti im Wiener Café an der Schönhauser. Mehr verrate ich nicht.“ Gut. Jetzt also Filmvorführung. Play.

Auftritt Gitti. Über die Küche breitet sich ein Lächeln, kollektiv. Wie früher. Acht Männeraugen schauen auf den Bildschirm des Laptops, sitzen, angespannt, um diesen Tisch, als wäre das eine Séance. Strahli dreht den Volumeregler an den Anschlag. Kneipengeräusche erfüllen jetzt den Raum. Auf dem Küchentisch verschluckt sich eine schwarzhaarige Frau, massig in Schwarzweiß, am ersten Zug ihrer Zigarette. Ja, Strahli, das Medium, hat ihre Stimme gut getroffen. Micha zieht einen Hut, den er nicht trägt: „Titten-Gitti“, sagt er, „wir haben uns lange nicht gesehen.“

Titten-Gitti wurde 66 Jahre alt.
Titten-Gitti wurde 66 Jahre alt.
© Stills: Salzgeber & Co. Medien GmbH

Da sitzt sie nun, mächtig, eine Erscheinung. Das Haar toupiert, die Augenbrauen dunkel nachgezogen. Eine Diva, das sieht man sofort, eine Frau, die ihren eigenen Orbit mit sich trägt, ihre eigene Gravitation besitzt. Neben ihr ein schmales Männchen, wie angeklebt. Sie raucht, hustet. Wedelt sich den Qualm aus dem Gesicht. Nun setzt sich ein anderer neben sie. Und klar, die Platte geht an. „Ich bin vonne Stadtwache.“ Der Mann, weißer Bart, grauer Pullover, kennt das schon. „Sie sagt“, sagt er, „sie sei die Ex-Freundin von Manne Krug.“ Gitti verweist ihn mit einem Augenaufschlag auf die Plätze: „Nicht die Freundin, die Verlobte. 1956, das stimmt ja sogar. Das kann man ja beweisen.“ Skeptiker im grauen Pullover: „Wie willste das denn beweisen?“ Janz einfach: „Kann ick. Ich verkehre mit Manne noch einmal im Jahr, ich habe ihn doch drüben gesehen, so oft schon.“ Damit wäre auch das geklärt, sie raucht weiter.

Mucki, mein Schnucki...

Kurzer Schnitt. Der Film zeigt nun eine Gypsie-Kapelle. Dann wieder Gitti. Nun steht sie, zu voller Größe aufgebaut, steht dort, wo sie sich am wohlsten fühlt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit. „Alle gucken?“ Ja, Gitti, alle gucken. Gut. „Da werde ick mal watt von Trude Herr singen.“ Und dann singt Gitti was von Trude Herr, das gar nicht von Trude Herr ist. Aber wen kümmert das. Mucki, mein Schnucki. Singt das ohne Musik, ohne Takt, ohne Rhythmus. Aber der Auftritt stimmt, die Gestik, die Grazie. Der Handkuss, gehaucht. Lasziv und vulgär zugleich. Hätte man einer Schauspielerin den Auftrag gegeben, das genauso zu choreographieren, die Gitti zu tanzen, sie wäre daran gescheitert. Hier aber sehen nun alle Gitti in ihrer Paraderolle. Als Gitti. Die Opernsängerin Donna Kaputti, die Verlobte von Manfred Krug, die Edelhure, das Mannequin. Sie ist all das in jeder Bewegung ihrer Hände, ihrer Arme, über dem Kopf. Ein angetäuschter Ohnmachtsanfall, der jederzeit in einer Schlägerei enden könnte. Mucki, mein Schnucki. Der letzte Takt, das letzte Wort. Aus. „Und jetzt Applaus mit die Möbel.“ Das Wiener Café klatscht. „Lauter!“ Das Wiener Café klatscht. Lauter. Gitti verlässt die Bühne.

In Michas Küche schauen fünf Männer auf einen kleinen Bildschirm und wissen nicht genau, was sie als Nächstes sagen sollen, weil alles gesagt ist. Also erst mal: rauchen. Sammeln. Schlucken. Wieder ankommen. Noch einmal Kaffee für alle, noch einmal gedrehte Zigaretten. Dann verlassen wir Michas Wohnung. Und sind, unten auf der Straße, fast überrascht, dass hier tatsächlich 2013 ist, die Bilder in Farbe.

Wir nehmen, muss sein, ein Taxi. Raus aus Prenzlauer Berg. Ein letztes Mal: Kennen Sie Titten-Gitti? Und der Fahrer, gelbes Kunstfellgesicht, antwortet. Unmittelbar. „Ja, Gitti, die habe ich ein paar Mal gefahren, in die Grellstraße.“ Es folgt der übliche Gitti-Steckbrief. Und gesoffen hat die. Dann aber, kurz bevor wir aussteigen, sagt er noch etwas: „Einer hat letztens erzählt, dass die noch lebt. Im Pflegeheim. Die sitzt jetzt wohl im Rollstuhl.“ Es ist die letzte Geschichte, die wir hören. Über Gitti, Brigitte Klingmann, gestorben, laut Melderegister des Bezirksamts Berlin-Pankow, am 16. Mai 2005. Und vielleicht ist es auf ihre Art die ehrlichste. Weil uns über Wochen niemand lebendiger vorkam als sie, in Alkohol konserviert. Und es bleibt, am Ende, der Satz von Trude Herr, der wirklich von Trude Herr ist. Niemals geht man so ganz. Titten-Gitti wurde 66 Jahre alt.

Der Text erschien in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin.

Zur Startseite