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Unterrichtsausfall muss keine verlorene Zeit sein.
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Unterrichtsausfall in Berlin: Shoppen statt Schule

Jedes Jahr fallen etwa 400.000 Schulstunden in Berlin aus. Unser Autor Stephan Wiehler hat eine Idee, wie Schüler die freie Zeit nutzen könnten.

Unterrichtsausfall muss keine verlorene Zeit sein. Unsere Tochter Greta hat mit ihrer Klasse das KaDeWe besucht. Eine Lehrerin war krank, und da hatte eine Erzieherin die Idee, die Drittklässler für eine Stunde in das Kaufhaus am Wittenbergplatz zu führen. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Die Warenwelt ist Teil unseres Lebens, und so ein kleiner Ausflug kann lehrreich sein. Die Pädagogin wird darauf geachtet haben, dass die Schüler kein Geld ausgaben. Mit leeren Händen haben die Kinder das Kaufhaus trotzdem nicht verlassen. Sie haben gelernt: In dieser Stadt kannst du mit nichts kommen und trotzdem noch was mitnehmen. Mangel ist hier kein Makel. Von dieser Erzieherin können wir alle etwas lernen, finde ich.

Am Abend lag der KaDeWe-Katalog, den Greta nach Hause mitgebracht hatte, auf dem Esszimmertisch. Ein Hochglanzmagazin, gefüllt mit den klangvollen Marken des Luxussegments, Mode, Wohnaccessoires, Beauty, Lifestyle, sinnlich inszeniert in den Farben der Saison, ein Reizobjekt für die Mittelklasse, die süßeste Verführung, seit es den Dispositionskredit gibt.

400.000 Stunden fallen pro Jahr aus

Schon vom Durchblättern fühlte ich mich vom Markt leicht überhitzt. Dazu kam der betörende Duft, den das seidene Bändchen an Gretas Handgelenk im Raum verströmte. Sie hatte in der Parfümerie ein Pröbchen bekommen, und praktischerweise war auf dem Bändchen der Produktname des Parfums zu lesen. Meiner Frau gefiel der Duft. Sie schaute gleich auf ihrem Smartphone nach und entschied: zu teuer. Aber wer weiß, Gelegenheit macht Triebe, so ähnlich heißt es doch.

Stellen wir uns vor, jede Unterrichtsstunde, die in Berlin ausfällt, würde so kreativ genutzt wie diese eine. Wie viele Prospekte, Gratisproben und Vorteilsgutscheine könnten die Kids in die Wohnzimmer ihrer Eltern tragen und deren Konsumneigung fördern? Nach Angaben der Initiative „Bildet Berlin“ können pro Schuljahr von den insgesamt knapp 19 Millionen Unterrichtsstunden etwa zwei Millionen Stunden nicht vom regulären Lehrpersonal erteilt werden. Weil es aber nicht genug Vertretungslehrer gibt, die zum Beispiel für erkrankte Kollegen einspringen können, fallen jedes Jahr etwa 400.000 Schulstunden komplett aus.

Konsumfreie Zeit am Wochenende

Bei 20 Schülern pro Klasse ergibt das acht Millionen unterrichtsfreie Stunden. Acht Millionen vergeudete Stunden, die unsere Kinder auf dem Pausenhof oder in der Hortbetreuung herumhängen. Es ist mir ein Rätsel, warum die Wirtschaft hier nicht einspringt – in ihrem eigenen Interesse. Der Einzelhandel sollte Betreuer für die Schulen abstellen, damit die Schüler unter verantwortungsvoller Anleitung Smart Shopping erlernen. Es wäre doch schön, wenn die Kinder während des Unterrichtsausfalls für ihre berufstätigen Eltern einkaufen würden.

Die Familie könnte dann am Wochenende die Freizeit öfter gemeinsam konsumfrei genießen. Ich kann den Erfolg, den diese Idee verspricht, geradezu riechen. Ich schenke sie Berlin, der Stadt der Kreativen und des dynamischen Wachstums. Lasst die Wirtschaft mit den Kindern wachsen.

KaDeWe, Tauentzienstraße 21-24, Schöneberg, auch für Schüler an Unterrichtstagen bisher leider erst ab 10 Uhr geöffnet.

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