Berlin: Selbstkontrolle lernen
Charité hilft Männern, die sich zu sehr zu Kindern hingezogen fühlen — mit großer Nachfrage
Frank H. ist 36 Jahre alt, ledig und wird von Psychologen als unauffällig beschrieben. Allerdings merkte Frank H. (Name geändert) schon als Schüler, dass er sich zu kleineren Jungen hingezogen fühlte. Wenn er an spielenden Zwölfjährigen vorbeiging, bekam er Herzrasen. Er wollte die Jungen dann berühren, wusste nicht, wie er mit seinen Gefühlen umgehen sollte und fühlte sich unverstanden. Wer ihm hätte helfen können, wusste er nicht. Bis ihm der Slogan „Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?“, die Augen öffnete. Frank H. meldete sich daraufhin beim Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Charité. Das war vor einem Jahr.
Außer H. gaben 417 weitere Männer zu, dass ihnen Kinder tatsächlich lieber sind, als ihnen lieb ist – und haben sich seit Beginn des Projektes „Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch im Dunkelfeld“ 2006 an der Charité gemeldet. Und sie sind nur die Spitze des Eisbergs. Von den geschätzten jährlich 60 000 Fällen von Kindesmissbrauch in Deutschland, werden nur knapp 20 000 bekannt und etwa 16 000 angezeigt.
Nicht alle der Männer, die sich bei der Charité gemeldet haben, kommen allerdings für eine Behandlung infrage, weil sie sich zum Beispiel nicht einer langfristigen Therapie unterziehen, sondern sich nur über ihre Neigungen informieren wollen. Mit 251 der mehr als 400 Männer haben Experten der Klinik daraufhin telefonische Interviews geführt, 210 kamen schließlich zu einer Besprechung, aus der eine Behandlung folgen kann. „Und diese Männer kamen trotz der Angst vor sozialer Isolation, Stigmatisierung und juristischer Verfolgung“, sagte Projektleiter Klaus Michael Beier von der Charité gestern. Doch vor rechtlichen Konsequenzen müssen sie keine Angst haben. Die Therapeuten unterliegen einer gesetzlichen Schweigepflicht.
Seit März dieses Jahres befinden sich 70 Patienten in Behandlung. Gestern stellten die Organisatoren des Präventionsprojektes erste Erfahrungen mit den Männern vor. Bei diesen potenziellen Tätern gäbe es durchaus ein Problembewusstsein hinsichtlich ihrer Neigungen, und den Willen, es gar nicht so weit kommen zu lassen, sagte Beier. „Sie leiden enorm unter ihren sexuellen Neigungen“, sagte Psychologe Christoph Ahlers. Wie stark die Nachfrage ist, zeigt die Warteliste mit 40 Männern, die schon für eine Behandlung vorgesehen sind. „Wir können mit weiteren Behandlungen aber erst beginnen, wenn wir mehr Kapazitäten haben.“ Dazu benötige man mehr Geld über den Sommer 2007 hinaus. Bis dahin fördert die VW-Stiftung das Projekt mit mehr als einer halben Million Euro.
Ziel der Arbeit von Ahlers und seinen Kollegen ist es zu verhindern, dass pädophile Phantasien irgendwann in die Tat umgesetzt werden. Wissenschaftlicher Ausgangspunkt ist, dass man sich seine bereits im Jugendalter ausgebildeten sexuellen Neigungen nicht einfach aussuchen kann und diese auch nicht vollständig und dauerhaft veränderbar sind. Die freiwilligen Melder an der Charité werden nach der Überprüfung auf ihre Therapietauglichkeit in entsprechenden Einzel- oder Gruppensitzungen behandelt. In einem Verhaltenstraining werden die Männer mit alltäglichen sexuellen Gefahrensituationen konfrontiert und lernen, kontrolliert zu reagieren. „Verhaltenskontrolle ist wichtig“, sagte Beier.
Die Charité betritt mit ihrem Projekt Neuland. Bisher wird vor allem mit potenziellen Opfern gearbeitet, präventive Ansätze bei Tätern sind selten. So selten, dass Männer, die sich zu Kindern hingezogen fühlen, aus dem gesamten Bundesgebiet nach Berlin reisen, um sich hier helfen zu lassen. Einige Patienten nehmen jede Woche 500 Kilometer Anfahrtsweg in Kauf, um sich in der Charité behandeln zu lassen. Auch aus dem Ausland gibt es Nachfragen.
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