Berliner Philharmoniker: Sechs Schüsse auf den Dirigenten
Geplatzte Wahl bei Berlins Philharmonikern? Es geht noch schlimmer. Der erste Leiter des Orchesters nach dem Krieg wurde 1945 von einem US-Soldaten getötet.
Kein neuer Dirigent für die Philharmoniker also, noch nicht. Die Entscheidung wegen offenkundiger Uneinigkeit der stimmberechtigten Mitglieder des Orchesters verschoben. Es hat also nicht geholfen, dass die Wahl symbolträchtig im Gemeindehaus der Jesus-Christus-Kirche in der Dahlemer Thielallee stattfand. Dem Ort, an dem die Philharmoniker vor 70 Jahren ihre eigene Stunde null erlebt hatten. An dem erneut geprobt worden war, unter dem Dirigenten Leo Borchard, der den in seine Teile zerfallenen Klangkörper erst wieder zusammengesetzt hatte.
Doch Glanz und Elend, in diesem Fall: neues Leben und früher Tod, liegen mitunter dicht beieinander. Und so steht das Gemeindehaus zugleich für einen abrupt beendeten Abschnitt der Orchestergeschichte, für eine Krise, der gegenüber das Wahldebakel ein relativ harmloser Vorgang ist: Am 23. August 1945 wurde Leo Borchard, knapp zwei Monate zuvor vom Orchester zum Chefdirigenten gewählt und vom Magistrat mit der „künstlerischen Gesamtleitung“ betraut, an einem US-Kontrollpunkt erschossen.
Borchard reorganisierte das Orchester
Schon vor und während des Krieges hatte Borchard als freier Dirigent mit den Philharmonikern zusammengearbeitet. Ein Musiker, der anders als Chefdirigent Wilhelm Furtwängler den Nationalsozialisten denkbar fernstand. Der mit seiner Lebensgefährtin, der Journalistin Ruth Andreas-Friedrich, die Widerstandsgruppe „Onkel Emil“ um sich geschart hatte, die verfolgte Juden unterstützte, Flugblätter verteilte und in einer Aktion das Wort „Nein“ zigfach an Hauswände malte. Am damaligen Wohnhaus im Steglitzer Hünensteig 6 erinnert eine „Berliner Gedenktafel“ an das Paar, und die Steglitzer Musikschule trägt Borchards Namen.
Auch die alte Philharmonie hatte den Bombenkrieg nicht überstanden: Seit dem 30. Januar 1944 war das Gebäude in der Bernburger Straße nur noch ein Trümmerhaufen. Wie Andreas-Friedrich in ihren – wahrscheinlich später literarisch überarbeiteten – Tagebuchaufzeichnungen schreibt, hatte Borchard, von ihr hinter dem Pseudonym Andrik nur notdürftig verborgen, bereits wenige Tage nach dem 8. Mai beschlossen, das Orchester zu reorganisieren und ein Konzert zu geben.
Der Beginn einer glänzenden Karriere?
Bereits für den 24. Mai notiert sie die erste Probe, vielleicht in der Aula des heutigen Goethe-Gymnasiums in der Gasteiner Straße in Wilmersdorf, die sich aber nach den Erinnerungen des Paukers Gerassimos Avgerinos als ungeeignet erwiesen habe, vielleicht schon im Gemeindehaus Dahlem. Zwölf Tage lang war Borchard zuvor kreuz und quer durch Berlin geradelt, um Genehmigungen und Instrumente zu beschaffen, Musiker zusammenzutrommeln und eben einen Probenraum zu organisieren. Und bereits am 26. Mai fand das erste Konzert statt, im Titania-Palast in der Steglitzer Schloßstraße. Auf dem Programm: die Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“ von Mendelssohn-Bartholdy, Mozarts Violinkonzert Nr. 5 und Tschaikowskys Symphonie Nr. 4.
Es wurde ein Riesenerfolg: Ein mit fast 1000 Besuchern ausverkauftes Haus, die „stürmische Begeisterung“, von der die „Berliner Zeitung“ schrieb, so heftig, dass das Volksbildungsamt Wilmersdorf umgehend eine Wiederholung des Programms vier Tage später veranlasste.
Es hätte für Borchard der Beginn einer glänzenden Karriere werden können, trotz einiger Rückschläge, die es zu beklagen gab. So beschlagnahmten die in den ersten Julitagen in Berlin eingerückten Amerikaner den Titania-Palast für eigene Zwecke, ließen dann aber doch mit sich reden. Wenigstens stundenweise konnten Borchard und die Philharmoniker das Kino für Proben und Konzerte nutzen, nur mussten Musiker wie Besucher den Hintereingang nutzen. Dem wachsenden Erfolg hat das nicht geschadet.
Der verhängnisvolle 23. August
Doch dann kam der verhängnisvolle 23. August, beschrieben von Andreas-Friedrich: Borchard und seine Lebensgefährtin sind in die Grunewald-Villa eines britischen Colonels eingeladen. Ein beschwingter Abend mit Whisky, Sandwichs und anregenden Gesprächen. Es wird spät, die Sperrstunde naht, der Offizier bietet an, das Paar nach Hause zu fahren. In flottem Tempo geht es durch die menschenleeren Straßen, Hildegardstraße, Bundesallee und Bundesplatz, die damals noch Kaiserallee und Kaiserplatz heißen.
„Unter der Bahnunterführung stehen drei Schatten.“ Borchard und der Colonel achten nicht darauf, unterhalten sich gerade über Bachs Drittes Brandenburgisches Konzert. „Ein merkwürdiges Geräusch. Als würfe jemand eine Handvoll Kies gegen den Wagen. Kies oder ... grundgütiger Vater! (...) Jetzt knallt es. Etwas spritzt um mein Gesicht, schlägt mir mit hackenden Stößen gegen Schultern und Arme. Pulvergeruch. Beißend und schweflig. Und noch ein Geruch. Was riecht hier nur so fremd ... Tack-tack-tack ... tack-tack-tack ... Der Wagen steht.“
Sechs Schüsse aus einer Maschinenpistole haben den Wagen getroffen, und der fremde Geruch, das ist der Geruch des Blutes von Leo Borchard, der noch im Wagen stirbt. Wie Andreas-Friedrich weiter schildert, habe es in der Nacht zuvor eine Schießerei zwischen Russen und Amerikanern gegeben. Daher sei den US-Posten an der Sektorengrenze – in diesem Fall zwischen Wilmersdorf (britisch) und Friedenau (amerikanisch) – befohlen worden, ab 23 Uhr jeden Wagen zu kontrollieren und sofort zu schießen, falls einer nicht anhalte – „scharf zu schießen, denn die Russen reagierten nicht auf Schüsse in die Luft. Der Wagen unseres Freundes hatte starke Lichter. Man sah offenbar nicht, dass er englische Kennzeichen hatte. Man hielt ihn für einen russischen Wagen.“
Vom 24. Mai bis 28. Juni ist im Foyer der Philharmonie die Ausstellung „Leo Borchard – Dirigent, Kosmopolit, Widerständler“ zu sehen (Mo–Fr 15 bis 18 Uhr, Sa, So und Feiertage 11–14 Uhr sowie bei Konzerten). Ruth Andreas-Friedrichs Buch „Schauplatz Berlin. Tagebuchaufzeichnungen 1945 bis 1948“ ist bei Suhrkamp erschienen.
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