Die Folgen der Silvester-Nacht: Schwer verletzt - trotzdem will er wieder böllern
Michél Lorke ist einer der 21 Berliner, die Silvester im Unfallkrankenhaus landeten. Seine Begeisterung für Feuerwerk hat das nicht gedämpft.
Immer wieder guckt Michél Lorke auf seine rechte Hand. Lorke ist erstaunt, wie weiß seine Knöchelchen sind. Die Druckwelle des Böllers hat die Mittelhandknochen herausgepresst. Sein Daumen macht ihm aber mehr Sorgen. Wie eine Rose schaut der aus. Die Explosion hat viel Weichgewebe weggesprengt. Das Fleisch, das noch da ist, ist aufgequollen und schält sich zur Seite.
Während Lorke in der Notaufnahme sitzt, operieren die Ärzte des Unfallkrankenhauses Berlin in einem fort. Parallel in drei Operationssälen. 21 Böller-Opfer werden die Chirurgen am Ende der Silvesternacht versorgt haben, fünf Amputationen vorgenommen. So twittert es das Unfallkrankenhaus am nächsten Morgen. Der Tagesspiegel und viele andere Zeitungen greifen die Zahlen schnell auf. Sie illustrieren den Grusel, der vom Feuerwerk am Jahreswechsel ausgeht. Für Michél Lorke bedeutet der Trubel, dass er warten muss. Und während er auf seine Hand starrt, machen sich seine Ärzte vor allem Sorgen um sein rechtes Bein. Auch hier fehlt viel Fleisch. Der Böller hat eine richtige Kuhle in Lorkes Körper gesprengt.
Den Knall hört er nicht
Michél Lorke, 47 Jahre alt, mag Silvester. Wie in den vergangenen Jahren hat er seine Familie und Freunde nach Weißensee zu sich in seine Autowerkstatt eingeladen. Im Hof grillt er ein Spanferkel. Für fünfhundert Euro hat er Feuerwerk gekauft. Seine Gäste und er trinken ein paar Bier, essen vom Spanferkel. „Alles super“, sagt Lorke. Gegen elf Uhr geht er auf den Hof, um mit dem Feuerwerk zu beginnen. Was für einen Böller Lorke mitnimmt, weiß er nicht mehr so genau. „Das war so ein großer, in Pappe eingewickelt“, sagt er. Er hält sein Feuerzeug an die Lunte und wartet fünf Sekunden. Nichts passiert. Er beugt sich ein zweites Mal vor, steht jetzt mit seinem Körper genau über dem Böller. Will diesmal die Lunte auch wirklich erwischen. In dem Moment zündet das Feuerwerk.
Den Knall hört er nicht. Als Lorke wieder zu sich kommt, liegt er zehn Meter entfernt. Lorke guckt an seinem Körper herab, ist froh, dass noch alles dran ist. Dann sieht er, dass seine Hosenbeine ganz rot sind. Die nächsten Minuten erlebt er wie in Trance. Geht zum Waschbecken und lässt Wasser über die Wunden laufen. Vor allem sein Vater ist besorgt. Lorke sitzt in der Werkstatt und guckt abwesend ins Nichts. Seine Frau und ein Freund fahren ihn ins Krankenhaus. Seinen Gästen sagt er, dass sie sich keine Sorgen machen und ruhig weiter feiern sollen. Er kann ja ganz normal gehen. Und reden kann er auch. Allerdings fällt ihm auf, dass er nicht gut hört.
„Volle Beweglichkeit, das wäre schon gut“
Gegen sechs Uhr morgens wird er operiert. Die Ärzte müssen Lorkes Wunden erst mal vergrößern, bevor sie alles zunähen können. In seinem Körper stecken überall Feuerwerksspuren. Und die Pappe hat sich tief in sein Fleisch gefressen. Anderthalb Stunden dauert die OP. Als Lorke aufwacht, will er die Ärzte fragen, wann er denn nun operiert wird. Erst dann sieht er, dass alles schon erledigt ist. Anschließend schläft er für den Rest des Tages.
Vier Tage später sitzt Lorke in einem kleinen Behandlungszimmer. Die Operation hat er soweit gut überstanden. Bevor er entlassen wird, will sich seine Ärztin noch einmal seine Hand angucken. Lorke kann alle Finger bewegen, sogar den Daumen. Ärztin Ariane Asmus nickt zufrieden. „Aber da wird eine tiefe Narbe bleiben“, sagt sie. Sechs Wochen soll Lorke noch eine Schiene tragen. Seinen Daumen wird er danach trainieren müssen, um die volle Beweglichkeit zu erhalten. „Volle Beweglichkeit, das wäre schon gut“, sagt Lorke. Ohne seinen Daumen könnte er nur schlecht weiter als Automechaniker arbeiten.
Die Zeit im Krankenhaus sei schwer für ihn gewesen, meint er, während er auf sein Zimmer zurückgeht, um auf den Arztbrief zu warten. „Normalerweise arbeite ich zwölf Stunden am Tag. Nichtstun liegt mir nicht.“ Michél Lorke hat einen durchtrainierten Körper – soweit mandas durch die Baggy-Jeans und den schlabbrigen Hoody-Pullover hindurch erkennen kann. Seine grauen Haare hat er mit etwas Gel dezent, aber präzise in Form gebracht. „Sich nicht wirklich selbst die Zähne putzen können, oder einfach mal eine Stulle schmieren, das war schlimm“, sagt er.
„Man kann nicht mit allem aufhören, das gefährlich ist.“
Andererseits: Mit seinen Zimmergenossen sei es auch ganz nett gewesen. In den ersten zwei Tagen nach Neujahr sind alle Patienten auf Lorkes Station Opfer von Silvester-Böllern. Nur Männer. Ein bisschen, sagt Lorke, haben sie sich da schon gegenseitig verarscht. Da war etwa dieser Mann, dem ein Böller zwischen die Beine geflogen ist. Weil seine Hose Feuer gefangen hat, habe der Hauttransplantationen gebraucht. „Der musste darauf achten, dass sich seine Oberschenkel nicht berühren und ist deshalb ganz komisch gegangen. Den haben wir nur den Reiter ohne Pferd genannt.“
Als der Arztbrief kommt, hebt Lorke zum Abschied seine unverletzte linke Hand. Vor dem Krankenhaus wartet ein Freund auf Lorke. Er muss grinsen, als Lorke auf ihn zuläuft – seinen kaputten Arm in einer improvisierten, aus seinem Hoody gebastelten, Schlaufe. „Na sieht doch besser aus, als gedacht“, sagt er, bevor er Lorkes Sporttasche in den Kofferraum seines Autos schmeißt.
So ganz lässt Michél Lorke das Krankenhaus aber noch nicht hinter sich. Bei dem Unfall sind ihm beide Trommelfelle geplatzt. Er wird sich deshalb noch einmal woanders operieren lassen müssen. Bereut er es, dass er zu Silvester geböllert hat? „Nein“, sagt er. „Nächstes Jahr werde ich wieder Feuerwerk kaufen. Ich bin nach meinem Motorradunfall auch weiter Motorrad gefahren. Man kann nicht mit allem aufhören, das gefährlich ist.“
Caspar Schwietering
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