Erinnerung an DDR-Fluchttunnel: Schüsse, die nicht verhallen: spektakuläre Fluchtgeschichten vorgestellt
Zwei Tunnelfluchten aus Ost-Berlin sind jetzt als Bücher erschienen. Bei deren Vorstellung erzählten die Geflüchteten ihre Geschichten in Mitte. Auch Gedenktafeln wurden angebracht.
Archive sind Räume hochverdichteter Zeit. Wer eines betritt, zum Beispiel eine große Bibliothek, wird sich in Sekundenschnelle darüber bewusst, dass zusammengenommen Jahrtausende um ihn herum stillliegen, verfügbar, um wieder Gegenwart zu werden.
Archäologen betrachten die Welt als Archiv, den Boden als Arche, in der die Vergangenheit bewahrt wird. In allem ist Geschichte. In der Regel aber bleibt sie hinter den Gesichtern und Dingen, die einem begegnen, verborgen. In der Zimmerstraße, ein paar Schritte vom Checkpoint Charlie entfernt, war dies am Dienstag nicht so: der Boden, über den tagtäglich tausende Menschen gehen, der früher zum Todesstreifen gehörte, ist jetzt an zwei Stellen zum Denkmal deklariert.
Ehrengäste waren die geflüchteten Tunnelbauer
Denn darunter verliefen zwei Fluchttunnel, die beide mit spektakulären Ausbrüchen aus der ummauerten DDR und mit deutsch-deutschen Schicksalen verbunden sind. Am Dienstag erinnerte der „Verein Berliner Unterwelten“ an diese Geschichten, brachte gemeinsam mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Gedenktafeln an und stellte zwei neue Bücher vor, die beide Fluchten schildern. Ehrengäste waren die einst geflüchteten Tunnelbauer. Sie erzählten als Zeitzeugen ihre Erlebnisse.
Ein Ost-Junge liebt ein West-Mädchen - und plant einen Tunnel
1971 buddelten drei befreundete junge Männer im Bereich Zimmerstraße unbemerkt einen Schacht nach West-Berlin, Initiator war der damals 19-jährige Manfred Höer, er hatte sich in ein West-Mädchen verliebt und wollte unbedingt zu ihr gelangen. Am 9. Januar 1972 durchbrach das Trio den Fußweg einen halben Meter hinter der Grenzmauer – und wären um ein Haar noch in die Hände der DDR-Grenzer gelangt. Buchtitel: Der Tunnel am Checkpoint Charlie. Diese Flucht war bislang fast unbekannt.
Plötzlich stand ein Grenzer vor ihm und Rudolf Müller schoss
Zehn Jahre zuvor, 1962, hatte Rudolf Müller von Westen her einen Schacht gegraben, um seine im Osten festgehaltene Familie nachzuholen. Zu Beginn der erfolgreichen unterirdischen Flucht fielen zwei Schüsse, Müller tötete einen plötzlich vor ihm aufgetauchten Grenzer, weil er keinen anderen Ausweg sah. Später war in Ost und West von Mord die Rede. Ein Eindruck, der aber bald bröckelte.
„Kein Licht am Ende des Tunnels" heißt das Buch, das Müller zusammen mit Dietmar Arnold, dem Vorsitzenden des Unterwelten-Vereines am Dienstag vorstellte. Darin erzählt er seine Geschichte, angereichert mit Recherchen in Archiven, Akteneinsichten und juristischen Begutachtungen. Der Buchtitel, erklärt Arnold, bezieht sich darauf, dass, obwohl die Flucht für alle glimpflich ausging, alle Betroffenen bis heute darunter seelisch leiden. Ihm selbst, sagt Arnold, gehe es darum, aufzuklären, wie nachlässig beide politischen Seiten des Kalten Krieges mit dieser Geschichte umgegangen seien.
Auf Mord lautete das höchst umstrittene Gerichtsurteil
Bislang hieß es in allen Berichten, Rudolf Müller habe den Grenzsoldaten Reinhold Huhn auf dem Weg in den Tunnel mit zwei Schüssen niedergestreckt, genauer: ermordet. Auf Mord lautet nämlich das Urteil des Bundesgerichtshofs anno 2000, das die Tötung des Grenzsoldaten 38 Jahre später verhandelte. Schon die verhängte Strafe lässt aufhorchen: ein Jahr auf Bewährung. Für Mord. Diese Entscheidung, so die Richter, sollte „Frieden zwischen Ost und West stiften“.
Arnold erklärt, dass die zum Fall gehörenden Unterlagen einen Zweifel nahelegen – einen Zweifel, der vor Gericht für den Angeklagten hätte ausgelegt werden müssen, aber aus unerklärlichen Gründen oder bloßem „Pfusch verschlampt“ worden sei. Denn den Protokollen zufolge, habe der zweite Schuss Huhn von hinten getroffen, was nur schwer vom Standpunkt des mutmaßlichen Schützen Müller zu erklären sei. Die Gerichtsmedizin der Ost-Charité, namentlich Otto Prokop, äußere sich in den Aufzeichnungen bestenfalls schwammig, als könne der Unterschied zwischen einem Pistolenprojektil und dem Geschoss einer Kalaschnikow nicht sicher festgestellt werden. Müller seinerseits gibt an, nur einmal gefeuert zu haben, was sich mit dem dokumentierten Fund nur einer Patronenhülse an seinem Standort deckt.
Verschleierte das MfS die gerichtsmedizinischen Einträge?
Arnold hält diese Hypothese für realistisch: als der Grenzer Müller befahl, stehenzubleiben, alarmierte das den 40 Meter entfernten Postenführer Fritz Hoffmann. Als Müller dann seinen Schuss auf den mit einer Kalaschnikow zielenden Huhn abgab, feuerte Hoffmann Müller zufolge einen Kugelhagel auf die Fliehenden ab, wobei er seinen Kameraden von Hinten getroffen haben könnte.
Die lückenhaften gerichtsmedizinischen Einträge könnten, so Arnold weiter, auf eine Verschleierung durch das MfS schließen lassen: Wie im Fall Egon Schulz, eines anderen, nachweislich von den eigenen Leuten getöteten Grenzsoldaten der DDR.
„Der Tunnel am Checkpoint Charlie. Eine spektakuläre Flucht 1972“ von Bodo Müller und Siegrun Scheiter.
„Kein Licht am Ende des Tunnels, 1962 – die tragische Flucht einer Familie“ von Dietmar Arnold und Rudolf Müller.
Beide Titel sind im Ch. Links-Verlag erschienen und kosten je 20 €.