Leistungsvergleich: Wo liegen Berlins Bildungsschwierigkeiten?
Der neue Leistungsvergleich von Schülern ist ernüchternd für die Berliner Neuntklässler: Sie liegen meist unter dem bundesweiten Schnitt. Warum schneidet Berlin so schlecht ab?
In den Jahren nach dem Pisa-Schock von 2001 haben die Kultusminister eine Reihe von Maßnahmen zur Qualitätssicherung im Schulwesen beschlossen. Dazu gehören Bildungsstandards. Sie sollen in mehreren Kernfächern eine Messlatte darstellen, an der Schüler aller Bundesländer gemessen werden. So soll Transparenz über Stärken und Schwächen entstehen. Im Jahr 2009 wurde erstmals getestet, inwieweit Neuntklässler, die nach der zehnten Klasse den Mittleren Schulabschluss (MSA, früher Realschulabschluss genannt) schaffen wollen, die Standards in Deutsch und in der ersten Fremdsprache erreichen. Die Studie wurde dieses Mal nicht vom nationalen Pisa-Konsortium, sondern in der Verantwortung der Länder vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Berliner Humboldt-Universität durchgeführt. Die Ergebnisse haben die Kultusminister am Mittwoch in Berlin bekannt gegeben.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse?
Zwischen den einzelnen Ländern, aber auch zwischen den Schülern innerhalb der Länder gibt es ein gewaltiges Leistungsgefälle. Der Abstand zwischen Bayern und Bremen beträgt im Lesen 40 Punkte, das entspricht einem Kompetenzunterschied von einem Schuljahr. Deutlich über dem Mittelwert liegen auch Sachsen, das Saarland und Baden-Württemberg, deutlich darunter auch Brandenburg, Hamburg und Berlin. Mehr als 20 Prozent erreichen bundesweit beim Lesen im Fach Deutsch nicht die Mindeststandards. In Englisch erreichen mehr als die Hälfte der Schüler nicht die Regelstandards, außerhalb des Gymnasiums gilt das zum Teil sogar für 90 Prozent. Ob ein Kind aufs Gymnasium kommt, hängt weiter entscheidend von seiner sozialen Herkunft ab. In Bayern hat ein Kind mit einem Elternteil aus der „oberen Dienstklasse“ eine fast 14-mal höhere Chance, aufs Gymnasium zu gehen, als ein Kind von leitenden Arbeitern oder von Facharbeitern. Bei gleicher Lesekompetenz hat ein Kind aus der Oberschicht in Bayern noch immer eine 6,5-mal so große Chance für den Besuch eines Gymnasiums, ebenso in Baden-Württemberg. Im Schnitt der Länder ist die Chance für ein Kind aus der Oberschicht, aufs Gymnasium zu gehen, bei gleicher Lesekompetenz 4,5-mal höher als für ein Arbeiterkind.
Wer wurde genau getestet?
In Deutsch und Englisch wurden bundesweit mehr als 36 000 Schüler der neunten Klasse aller Schularten getestet. Nicht dabei sind jedoch Schüler von Förderschulen, die keinen MSA anstreben. Damit wird ein Teil der besonders leistungsschwachen Neuntklässler nicht erfasst. Länder stehen im aktuellen Ranking besser da, wenn ein besonders großer Teil schwacher Schüler gar nicht getestet wurde, weil er sich in Förderschulen befindet (in Mecklenburg fast zwölf Prozent, in Rheinland-Pfalz kaum mehr als vier Prozent). Dies erkläre dennoch nicht die großen Unterschiede zwischen den Ländern, sagte Olaf Köller, der Leiter der Untersuchung. Eingegangen in das Länderranking sind allerdings Hauptschüler, auch wenn sie nicht den MSA anstreben. Sie lösten aber leichtere Aufgaben.
Wo steht Berlin?
Im Bundesvergleich haben nur Bremens Neuntklässler noch schlechtere Chancen, den Mittleren Bildungsabschluss zu erreichen, als ihre Berliner Altersgenossen. Dies gilt zumindestens für die Kernkompetenzen Lesen und Zuhören im Deutschen. Lediglich in der Rechtschreibung haben sich Hamburg und Brandenburg noch zwischen Bremen und Berlin geschoben. Anders ausgedrückt: 40 Prozent der Neuntklässler erreichen beim Lesen nicht die von den Kultusministern vorgegebenen Standards.
Besonders deutlich wird der Rückstand im Vergleich mit dem Spitzenreiter. In Bayern sind es nur 20 Prozent des untersuchten Jahrgangs, die die Standards verfehlen. Noch klarer wird Berlins Rückstand, wenn man die Schüler außerhalb der Gymnasien betrachtet, also die Haupt-, Real- und Gesamtschüler. Rund 60 Prozent bleiben hier hinter den Standards zurück. In Bayern liegt ihr Anteil nur bei nur 30 Prozent.
Besser steht Berlin allerdings im Fach Englisch da. Hier wird der zehnte Platz erreicht, was die Wissenschaftler vor allem auf die guten Englischlehrer an den Gymnasien zurückführen. Die neuen Länder fallen hinter Berlin zurück, weil sie aufgrund der anderen Rolle des Englischunterrichts in der DDR weniger ausgebildete Englischlehrer hatten, denen zudem noch die Sprachpraxis fehlte. Frisch ausgebildete Kräfte konnten – etwa in Brandenburg – wegen des jahrelangen Einstellungsstopps nicht nachrücken.
Welche Rolle spielt der Migrantenanteil?
Wissenschaft und Politik sind sich darin einig, dass – neben den sozialen Verwerfungen und der hohen Arbeitslosigkeit – der hohe Anteil an Migranten (31 Prozent) eine Hauptursache für Berlins schlechten Platz bei den Deutschkompetenzen ist. Erschwerend kommt hinzu, dass in Berlin besonders viele Migranten türkischer Herkunft leben, denn sie bilden unter den Migranten die Hauptproblemgruppe, da sie besonders häufig zur bildungsfernen Unterschicht gehören.
Auf Bundesebene stellt sich das so dar: Ein Neuntklässler ohne Migrationshintergrund erreicht beim Lesen im Schnitt 513 Punkte. Schüler, die selbst in Deutschland geboren wurden, aber deren Eltern beide aus dem Ausland kommen, erreichen 456 Punkte. Ist der Jugendliche selbst im Ausland geboren, sind es 440 Punkte. Dabei erreichen Jugendliche mit polnischen Wurzeln und aus der ehemaligen Sowjetunion 470 beziehungsweise 466 Punkte, türkische aber nur 417.
Im Leseverstehen im Fach Englisch liegen die Jugendlichen mit Migrationshintergrund allerdings näher am Schnitt der Deutschen. Sie profitieren demnach davon, dass Englisch als Sprache unterrichtet wird – ein wichtiger Hinweis darauf, dass auch ein echter Sprachunterricht in Deutsch helfen würde.
Wie reagiert die Politik?
Die Kultusminister sehen einen Bedarf, besonders die Leseleistungen weiter zu fördern. Nach Meinung von Studienleiter Köller erschweren Lerngruppen mit einer homogen leistungsschwachen Schülerschaft die Förderung: „Viel spricht für ein zweigliedriges Schulsystem.“
Berlins Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) kündigte am Mittwoch ein „Qualitätspaket“ an, das er nach der Sommerpause vorstellen will. Dazu könne gehören, dass schlechte Ergebnisse bei den Schulinspektionen künftig „mehr Konsequenzen“ nach sich ziehen. Bisher kann eine Schule so weitermachen wie bisher und kann selbst entscheiden, ob sie sich Beratung holt. Zudem erwägt die Bildungsverwaltung, Schulinspektionsberichte öffentlich zu machen.
Auch beim Jahrgangsübergreifenden Lernen (JüL) sieht Zöllner noch Handlungsbedarf. Es müsse Schulen erlaubt sein, „situationsadäquat“ von den JüL-Vorschriften abzuweichen. Der Senator bestritt, dass alle Schulen im Jahr 2011 komplett auf JüL umgestellt werden müssen. Dies wird allerdings von den Schulaufsichtsbeamten zurzeit anders kommuniziert. Im Übrigen warnte Zöllner vor „Aktionismus“. Reformen wie das Kita-Bildungsprogramm und das Sprachlerntagebuch müssten erst greifen, bevor man sie infrage stellen könne. Zudem widersprach er der Darstellung, dass „mehr Personal auch mehr hilft“.
Was ist mit Brandenburg?
Trotz eines sehr geringen Migrantenanteils von nur 5,2 Prozent gehört auch Brandenburg zu den bundesweiten Schlusslichtern. Das Bildungsministerium sieht dies in Versäumnissen nach der Wende begründet: Leider sei auf „Verbindlichkeiten“, etwa beim Training der Rechtschreibung, verzichtet worden. Deshalb wird erwogen, Schulstunden „umzuschichten“. Ein weiterer Grund für die schlechten Ergebnisse sei die „soziale Armut“, so Sprecher Thomas Breiding.
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