Schule: Wie Ex-Junkies zurück ins Leben finden
Die Tannenhof-Schule kümmert sich um Jugendliche nach dem Drogenentzug. Jetzt wird das 20-jährige Bestehen gefeiert.
Deutschlehrer Klaus Kersting wuchtet seine Unterlagen auf den Tisch und zwängt sich auf einen Stuhl. „Das ist leider das größte Problem hier“, raunt er. Er meint die Enge in einem Kabuff von Lehrerzimmer, das mit Büchern, Stühlen und Kaffeemaschine zugestellt ist. Und in dem auch noch die Sekretärin Platz finden muss. Das fünfköpfige Kollegium der Tannenhof-Schule in Neukölln tut dann das, was es vor jeder Konferenz tun muss: Es rückt zusammen. Doch nicht nur die Lehrer hocken bei ihren Besprechungen eng aufeinander. Auch an ihren Schülern sind sie näher dran als üblich. Und das nicht nur, weil sie sich mit rund 60 Schülern auf einem halben Stockwerk in einem Gewerbehof an der Mahlower Straße tummeln.
An der Tannenhof-Schule versuchen 17- bis 30-Jährige, einen Schulabschluss nachzuholen. Sie alle haben eine Suchtkarriere hinter sich und einen Drogenentzug und sind der Schulpflicht entwachsen. Für den Abschluss müssen sie sich an Regeln halten und vor allen Dingen clean bleiben, was etwa jeder Zehnte nicht schafft. Kaffee und Zigaretten sind erlaubt, alle anderen Gifte sind tabu.
Wer es mehrmals verbockt, fliegt. Aber eine zweite Chance kriegt jeder, schließlich läuft es hier wie in einer großen Familie. Schüler und Lehrer kochen zusammen oder schlagen in den Pausen an der Tischtennisplatte ein paar Bälle. Wenn es zwischenmenschlich knirscht, spüren das die Beteiligten umso heftiger, denn Rückzugsräume fehlen. Solange man aber miteinander auskommt, finden die Schüler gerade deshalb in einer schwierigen Lebensphase Halt.
Die Tannenhof-Schule gibt es seit 20 Jahren. Heute begeht sie dieses Jubiläum im Roten Rathaus, und der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) will mitfeiern. Als Stadtrat für Volksbildung in Tempelhof hat er sich einst für die Einrichtung stark gemacht, die ehemaligen Suchtkranken zurück ins Leben hilft. „Ich hätte ihn mir damals nicht zum Feind gewünscht“, sagt Schulleiterin Gabriele Laubmann. Leidenschaftlich habe Wowereit etwa dafür gekämpft, dass das Arbeitsamt die Schüler während der Ausbildung weiter finanziere.
Der Senat finanziert bis heute die beiden festen Stellen. Zusätzliche Mittel kommen seit 2001 aus dem Europäischen Sozialfonds. Zum neuen Schuljahr läuft diese Förderung jedoch aus. Die Schule bangt deshalb um ihre Existenz und bat Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) um Hilfe. Dessen Haus prüft derzeit nach eigenen Angaben, ob das Schulprojekt vollständig in die Regelfinanzierung des Landes übernommen werden könne. Der Fortbestand der Schule sei „grundsätzlich nicht in Gefahr“. „Solche Bildungsangebote sollten in jedem Fall Priorität genießen“, sagt Christine Köhler-Azara, Berlins Drogenbeauftragte.
Das beste Argument der Schule ist ihr Erfolg. Zum einen schaffen im Schnitt 80 Prozent der Schüler die Prüfungen. Zum anderen gibt es Menschen wie Conny Kirsten. Sie ist 28 Jahre alt, studiert an der Freien Universität Geographie und feilt in Förderstunden mit den Schülern an deren Englisch. Früher hat sie selbst gekifft, LSD und Ecstasy geschluckt, aber dann als Tannenhof-Schülerin die Kurve zurück ins Leben gekriegt.
„Hier hat es mir plötzlich Spaß gemacht, Wissen zu sammeln und dadurch mitreden zu können“, sagt Kirsten. „Es war schön zu merken, dass ich gar nicht so doof bin.“ Ihren Schülern erzählt sie gelegentlich auch aus ihrem Leben. So will sie ihnen zeigen, dass sich die Quälerei allen Zukunftsängsten zum Trotz lohnt. Sie selbst wollte der Institution etwas zurückgeben. Seit drei Jahren macht sie das zweimal die Woche.
Wahrscheinlich macht gerade das die besondere Atmosphäre hier aus: dass alle eine brüchige Biographie haben und sich offen mit ihr auseinandersetzen müssen. Niemand spiegelt einen perfekten Schein vor. Schon gar nicht die Schulleiterin Gabriele Laubmann. „Als Kind heulte ich, wenn jemand meinem alkoholkranken Großvater eine Flasche Rotwein schenkte“, sagt sie. Doch auch sie musste sich als junge Lehrerin mühsam an die spezielle Arbeit gewöhnen. Anfangs habe sie die Angst nicht aus dem Kopf bekommen, sich womöglich an einer herumliegenden Spritze mit AIDS anzustecken. Der zu großen Distanz zu den Schülern sei eine Phase mit zu viel Nähe gefolgt. Gabriele Laubmann musste als Schulleiterin erst ein richtiges Maß finden, so wie ihre Schüler im neuen Leben ohne Drogen.
Angefangen hat 1988 alles ganz klein: An den beiden Enden eines einzigen Tisches im Therapiezentrum an der Mozartstraße unterrichteten Laubmann und eine Kollegin ihre ersten Schüler. Weil es immer mehr wurden, ist die Tannenhof-Schule seitdem alle paar Jahre umgezogen. Eigentlich müsste die Schulfamilie nun abermals ein neues Domizil beziehen. Bis dahin machen sie es wie eh und je: Sie rücken noch enger zusammen.
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