Horst-Wessel-Lied im Musikunterricht: Was darf Schule?
Die Lehrerin eines Gymnasiums in Berlin-Köpenick hat im Musikunterricht das verbotene Horst-Wessel-Lied, die Parteihymne der NSDAP, durchgenommen. Dafür wurde sie angezeigt. Durfte die Lehrerin das im Unterricht machen?
In Köpenick ist eine Musiklehrerin des Emmy-Noether-Gymnasiums von einem Unbekannten angezeigt worden. Sie hatte mit ihren Schülern im Unterricht das verbotene Horst-Wessel-Lied durchgenommen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun wegen des „Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“.
Was ist an dem Gymnasium passiert?
Der Vorwurf lautet: Die Musiklehrerin habe die Elftklässler aufgefordert, das Lied zu singen und Marschieren zu imitieren. Aus Sicht der Schule und der Lehrerin stellt sich das anders dar: Die Schüler sollten den Rhythmus „mit dem Fuß erfassen und die Melodie mitsummen“. Thema des Unterrichts war „Lieder im Dienste politischer Propaganda“. Die musikwissenschaftliche Analyse des Wessel-Liedes habe zur Vorbereitung auf eine Klausur gedient, in der es um das Lied „Der Kälbermarsch“ von Bertolt Brecht und Hanns Eisler gehen sollte. Der „Kälbermarsch“ ist eine 1943 entstandene Parodie auf das Horst-Wessel-Lied. Der Schulleiter sagt, die Schüler bestätigten die Darstellung der Lehrerin. Sie habe klar darauf hingewiesen, dass das Lied verboten sei und sie es zu Studienzwecken analysierten. Die Anzeige erfolgte von einer schulfremden Person, die auf eine anonyme Quelle an der Schule verwiesen hat. „Wir müssen allen Anzeigen nachgehen“, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Allerdings ist eine Einstellung des Verfahrens wohl wahrscheinlich.
Was bedeutet das Horst-Wessel-Lied?
Das Horst-Wessel-Lied war zunächst ein Kampflied der SA, der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP. Später wurde es zur Hymne der Partei. Der Text stammt vom SA-Mann Horst Wessel, der 1930 von Mitgliedern des Roten Frontkämpferbundes getötet worden war. Die Nationalsozialisten stilisierten ihn zum Märtyrer. „Die Fahne hoch!/ Die Reihen fest geschlossen!/ SA marschiert/ Mit ruhig festem Schritt/ Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen,/ Marschier’n im Geist/ In unser’n Reihen mit“, heißt es in der ersten Strophe. Zwischen 1933 und 1945 wurde es nach der ersten Strophe des „Deutschlandliedes“ gesungen, auch regelmäßig in Schulen. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde es vom Alliierten Kontrollrat verboten.
Welche weiteren Versionen gibt es?
Das Lied ist von Anfang an parodiert worden. „Die Preise hoch, die Läden dicht geschlossen“, heißt es in einer Version, in einer anderen: „Kam’raden, die der Führer selbst erschossen“. Am bekanntesten ist Brechts und Eislers „Kälbermarsch“, er gehört zu Brechts Stück „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“ von 1943. Der Textanfang lautet: „Hinter der Trommel her/ Trotten die Kälber/ Das Fell für die Trommel/ Liefern sie selber./ Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen/Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt. / Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen/ Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.“
Was steht im Lehrplan der Oberstufe?
Im zweiten Halbjahr der Oberstufe, also der 11. Klasse im Gymnasium, ist im Lehrplan der Schwerpunkt „Musik im gesellschaftlichen Kontext“ vorgesehen. „Die Schüler entwickeln ein Verständnis für die Funktionalisierung von Musik im Dienste politischer, religiöser und wirtschaftlicher Interessen“, heißt es unter anderem. Konkrete Beispiele und Materialien werden im Lehrplan nicht vorgegeben. Es gibt aber eine Unterrichtsvorlage des Klett-Verlags, in dem das Wessel- Lied im Vergleich mit dem Kälbermarsch behandelt wird. Diese Vorlage hat die Köpenicker Lehrerin offenbar verwendet. Es gibt auch eine offizielle Fortbildung für Lehrer mit dem Titel „Musik und Politik“, bei der die beiden Stücke thematisiert werden.
Dürfen verfassungsfeindliche Symbole im Unterricht verwendet werden?
Wichtig sei die kritische Einordnung zu Beginn des Unterrichts, erklärt eine Sprecherin der Bildungsverwaltung. Die Lehrer müssten den Schülern klarmachen, warum sie die verbotenen Symbole verwenden und untersuchen. „Bei den Lehrern besteht eine hohe Sensibilität für das Thema“, sagt der Berliner Geschichtslehrer Robert Rauh, der als Fachseminarleiter auch Referendare ausbildet. Geschichtsbücher enthielten Auszüge aus „Mein Kampf“, im Deutschunterricht würden mitunter Goebbels-Reden analysiert. Es komme auf die kritische Distanz an, betont Rauh. Einige Methoden hält er allerdings für ungeeignet. In einem Unterrichtsmaterial sei vorgeschlagen worden, dass Schüler die Münchener Konferenz nachspielen, eine Gruppe sollte in die Rolle Hitlers schlüpfen. „Das halte ich für ungeeignet, die Schüler würde das völlig überfordern“, sagt Rauh. Wenn es im Unterricht darum ginge, Schüler Wahlplakate aus der Weimarer Republik erstellen zu lassen, würde er darauf verzichten, NSDAP-Plakate gestalten zu lassen.
Was verbietet das Strafgesetzbuch?
Nach Paragraf 86a droht Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren dem, der Kennzeichen verbotener Parteien oder Vereinigungen öffentlich verwendet. Der Tatbestand richtet sich gegen Kennzeichen von Gruppen, „die nach ihrem Inhalt dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation fortzusetzen“. Ausdrücklich genannt werden Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen. Strafbar sind auch verfremdete Kennzeichen, wenn sie den Originalen „zum Verwechseln ähnlich sind“. Geschützt werden soll der öffentliche Friede. Dass sich ein Täter zu den Zielen der verfassungswidrigen Gruppen bekennt, ist unnötig. Die Gerichte meinen, dass mit dem Tatbestand jeder Anschein vermieden, eine Art „Tabuisierung“ erreicht werden soll.
Sind auch Lieder solche Kennzeichen?
Ja, denn die Aufzählung im Gesetz soll nur Beispiele erfassen. Auch andere akustische oder optische Symbole können strafbar sein, darunter gerade auch das Horst-Wessel-Lied. Das Oberlandesgericht Oldenburg ließ es sogar genügen, dass zur Melodie ein verfremdeter Text gesungen wird. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte 2009, dass auch schon die Liedzeile „die Fahnen hoch“ den Tatbestand erfüllt. Auch Klingeltöne in der Melodie des Liedes, etwa fürs Handy, könnten strafrechtlich verfolgt werden.
Ist das Verwenden der Kennzeichen unter allen Umständen verboten?
Nein. Straffrei ist es, wenn das Zeigen der Kennzeichen oder das Singen von Liedern „der staatsbürgerlichen Aufklärung“ oder Kunst, Wissenschaft und Lehre dienen soll. Ausgenommen ist ausdrücklich auch die „Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens“. Also: Wenn es anerkannte, „sozialadäquate“ Motive für die Verwendung gibt, soll sie nicht verfolgt werden. Schulunterricht gehört zweifellos dazu. Eine straflose „Aufklärung“ kann auch etwa darin liegen, die Parteizeitung „Völkischer Beobachter“ nachzudrucken, wie es einmal das Landgericht München entschieden hat. Es soll auch nicht gleichsam um jeden Preis bestraft werden. Im Gesetz heißt es auch, die Gerichte könnten von einer Bestrafung absehen, wenn die Schuld des Täters gering ist.