zum Hauptinhalt
An etlichen Berufsschulen kann man nicht nur eine Berufsausbildung erlangen, sondern auch die Allgemeine Hochschulreife.
© dpa
Exklusiv

Berliner Schule - Ansturm der Seiteneinsteiger: Warnung vor einer "Entprofessionalisierung des Lehrerberufs"

Lehrer sein ist offenbar doch nicht so schlimm - denn die Zahl der Bewerber steigt fast täglich. Mittlerweile sind es schon 4000, darunter etwa 2000 Seiteneinsteiger. Besonders diese sieht mancher mit Sorge.

Pubertisten, die über Stühle und Bänke gehen, Fünfjährige, die noch ihr Stofftier brauchen, Zehnjährige, die kein Wort Deutsch sprechen: Berlins Schulen stehen vor großen pädagogischen und methodischen Herausforderungen. Umso mehr wächst die Sorge darüber, dass in den kommenden Jahren eine Flut von Seiteneinsteigern ohne Lehrerausbildung in die Schulen drängen.

„Wir bekommen es mit der Entprofessionalisierung des Lehrerberufs zu tun“, mahnt die Leiterin des Lankwitzer Beethoven-Gymnasiums, Gunilla Neukirchen, die zugleich die GEW-Schulleitervereinigung leitet. Diese Entwicklung sei „dramatisch“. Was Neukirchen und ihre Kollegen alarmiert, ist das Vorhaben der Bildungsverwaltung, die absehbaren Lücken mit nicht ausgebildete Lehrern zu stopfen, die aus dem Stand 19 Stunden pro Woche unterrichten sollen. Nur sieben Stunden pro Woche sind für die Methodik- und Didaktik-Schulung im berufsbegleitenden Referendariat angesetzt.

In Berlin sind 1700 Stellen zu besetzen

Zwar gibt es aktuell fast 1800 ausgebildete Lehrer-Bewerber für rund 1700 zu besetzende Stellen, wie die Bildungsverwaltung auf Anfrage des Tagesspiegels mitteilte. Aber erfahrungsgemäß kommt nur ein Teil von ihnen an, weil sie entweder in lukrativere Bundesländer gehen oder weil sie nicht die benötigten Fächer studiert haben. Deshalb geht die Schulbehörde davon aus, dass sie viele Seiteneinsteiger braucht; zunächst in diesem Sommer, dann laufend weiter, weil jährlich über 1000 Lehrer in Pension gehen. Deshalb stellt sich die Frage, wie diese Seiteneinsteiger adäquat ausgebildet werden können – und wie man ihre Eignung überhaupt feststellt.

Denn längst nicht alle Bewerber – es sind aktuell weit über 2000 – sind dafür geeignet, vor der Klasse zu stehen und Wissen zu vermitteln. „Das können ungefähr 50 Prozent“, schätzt Pit Rulff. Der Leiter der Ernst-Litfaß-Schule in Wittenau hat seit Jahrzehnten mit Seiteneinsteigern zu tun und findet es „alarmierend“, dass Berlin in den kommenden Jahren wegen der Pensionierungswelle und des Mangels an ausgebildeten Bewerbern derart stark auf Seiteneinsteiger angewiesen sein wird. „Ohne Lehrerausbildung vor der Klasse stehen – das ist ungefähr so, als ob jemand ohne Medizinstudium operiert oder ohne Pilotenschein ein Flugzeug steuert“, findet Rulff. Es bestehe die Gefahr, dass dabei in den Klassen „etwas kaputtgemacht“ werde. Rulff plädiert dafür, dass in den Schulen erfahrene Kollegen Freiräume erhalten, um die Seiteneinsteiger intensiv zu begleiten.

Nachdem die Neulinge ihre Arbeit angetreten haben, bleibt den vorgesetzten Schulleitern ein halbes Jahr Zeit, die Eignung festzustellen. Nach dieser Probezeit werden Kündigungen schwierig, es sei denn, das berufsbegleitende Referendariat wird mit einer „5“ abgeschlossen, was selten vorkommt. Allgemein gilt, dass auch Absolventen mit einer „4“ nur bedingt für den Schuldienst tauglich sind. Normalerweise haben sie kaum Chancen auf eine Einstellung. Erst der große Lehrermangel verschafft diesen schwächeren Lehrern die Chance, in ihrem Beruf zu arbeiten.

Der Senat hat Anforderungen gesenkt

Ein weiteres Qualitätsproblem droht, weil die Bildungsverwaltung die Anforderungen für das Zweitfach erheblich gesenkt hat. Bisher mussten 60 Semesterwochenstunden nachgewiesen werden. Jetzt brauchen es nur noch 20 zu sein. Auch dies wird mit Sorge gesehen. „Wir entwickeln gerade ein Modell, wie das zweite Fach berufsbegleitend nachstudiert wird“, heißt es aus der Bildungsverwaltung. Sie muss jetzt außerdem die Seminare ausbauen, in denen das berufsbegleitende Referendariat stattfinden soll.

Angesichts der insgesamt fast 4000 Bewerber wirbt Ralf Treptow vom Verband der Oberstudiendirektoren dafür, „so schnell wie möglich“ einzustellen und den Schulen auf diese Weise „Planungssicherheit“ zu geben.

Um den absehbaren Qualitätsproblemen vorzubeugen, plädiert Florian Bublys von der Junglehrerinitiative „Bildet Berlin“ dafür, dass Quereinsteiger ein vierwöchiges Probepraktikum und einen dreimonatigen Vorbereitungslehrgang „zum Erwerb didaktischer, methodischer, kommunikativer und sozialer Kompetenzen absolvieren, damit sie den komplexen Anforderungen des Lehrerberufs gerecht werden“, heißt es in einem Forderungskatalog, den die Initiative bei einer Kundgebung am Donnerstag bekannt machen will. Darüber hinaus müsse die Unterrichtsverpflichtung für Quereinsteiger von bisher 19 auf 12 Stunden reduziert werden. Neben Berlins Lehrer des Jahres, Robert Rauh, wird auch Landeselternsprecherin Lieselotte Stockhausen-Döring sprechen.

Zur Startseite