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Waldschule
© Thilo Rückeis

Naturschule: Von drauß’ vom Walde

Seit gestern besuchen 18 Kinder Berlins erste Naturschule. Hier wird bei jedem Wetter hauptsächlich draußen gelernt.

Zwei glänzende braune Leiber krümmen sich im Gras. Daneben schimmert etwas kleineres Weißes. Das ganze Häuflein sieht ziemlich schleimig aus. „Guckt mal, die Nacktschnecken haben Babys“, ruft Camille erfreut. „Schnecken sind niedlich, auch wenn die anderen Kinder alle ,Ööaaa‘ dazu sagen.“ An diesem Montagmorgen hat die Neunjährige es aber nicht auf Nacktschnecken abgesehen, sondern auf deren Verwandte mit Haus. Einen ganzen Topf voll hat sie schon gesammelt. Und währenddessen zusammen mit ihren 17 Mitschülern die Wildnis rund um ihre neue Schule erkundet. Der Regen prasselt dabei auf ihre Kapuzen. Von Camilles braunen Zöpfen ist nicht viel zu sehen.

Aber das schlechte Wetter stört die Kinder kaum. Schließlich sind sie „Naturkinder“: Sie gehen seit diesem Montag auf die neu gegründete „Freie Naturschule“ im Stadtgut Blankenfelde, die erste „richtige Waldschule Deutschlands“, wie Schulmitgründerin und Mutter einer Schülerin, Daniela Hoffmann, sagt. Die Schule am nördlichen Rand von Pankow funktioniert nach dem Prinzip der Waldkindergärten: Gelernt wird hauptsächlich draußen – und das bei jedem Wetter. Träger ist ein Verein, der schon zwei weitere freie Schulen in Berlin betreut.

Viele der Kinder sind vorher in den Waldkindergarten gegangen, dessen Basis in der linken Hälfte eines kleinen grauen Hauses auf dem Gut untergebracht ist. Die rechte Hälfte ist jetzt zur Schule umgebaut worden. Biologe Hagen Stenzel, Montessori-Spezialistin und Erzieherin Johanna Etzold und Grundschullehrer Jan Küster – die drei Bezugspersonen für die Kinder – haben in den letzten Tagen vor Schulbeginn noch gehämmert und gemalt.

Will man durch die braunen Sprossenfenster in die Schule spähen, sieht man zuerst – eine Schleimspur und eine Schnecke, die außen an der Scheibe emporkriecht. Schon ist Camilles Hand vorgeschnellt und hat das Tier zu den anderen in den Topf gesteckt. Drinnen erkennt man einen Strauß bunter Gartenblumen auf einem großen Tisch voller Bücher. Zieht man die matschigen Schuhe aus und betritt die Küche, findet man auch da überall Bücher: „Säugetiere und Kaltblüter des Waldes“ liegt da etwa zwischen der Spüle auf Kinderhöhe und den langen Bänken, an denen gegessen wird. Zurück im großen Schulraum fallen die niedrigen Regale auf: Zahlenspiele aus Holz finden sich dort, Rechenschieber, eine Waage. Alles zum selbstständigen fächerübergreifenden Lernen, am besten draußen im verwilderten Garten.

Nach dem Morgenkreis haben die Kinder immer längere Zeit „Freiarbeit“, um selbst Neues zu erarbeiten. Fächer im klassischen Sinn, Schulstunden und Frontalunterricht gibt es nicht. Und noch etwas ist anders als in den Klassen der meisten Regelschulen: die Altersstruktur. Camille mit ihren neun Jahren ist eine der ältesten, die kleine blonde Fritzi ist fünf und eine der Jüngsten. „Die Jüngeren sollen auch von den Älteren lernen“, sagt Lehrer Küster und blickt streng durch die Brille, die seine Augen vergrößert. Vor allem aber sollen die Kinder lernen, während sie etwas Praktisches tun: Gemüse im Garten anbauen etwa, ernten und zubereiten: „Beim Abwiegen und Rezeptelesen lernen sie Mathematik, ohne es zu merken“, sagt Küster.

Noch häufiger als im Garten sollen sich die Kinder im nahen Landschaftsschutzgebiet Tegeler Fließ aufhalten, Wälder und Wiesen durchstreifen. Zwei Stunden pro Tag werden sie mindestens draußen sein. Mit dabei: Biologe Stenzel und Schulhundedame Tigga. Auch wenn sie wie geplant am wöchentlichen Projekttag Nachbarn besuchen, um etwas von ihnen zu lernen: ältere Leute im Dorf, Handwerker wie die Weber und die Naturschutzstation im Gut.

„Meine Kinder haben immer so viel Wissen aus dem Waldkindergarten nach Hause gebracht“, sagt Vorstandsmitglied und Mitgründerin Frauke Rohde-Hertel. Deshalb hat sie gleich ihre beiden Kinder in der Waldschule untergebracht: Fritzi und ihren großen Bruder Kalle, der schon die erste Klasse an einer Regelschule absolviert hat. Camille war nicht im Waldkindergarten: „Leider“, sagt sie. Und lässt ihre gesammelten Viecher im Gebüsch frei: Schneckensalat auf Buchenlaub. Könnte glatt zum Rezept werden. 

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