Auf dem Weg zur Inklusion: Sonderschulen werden ausgesondert
Die Inklusion wird vorangetrieben, ein Beirat will heute letzte strittige Punkte klären. Doch viele Schulen sind nicht vorbereitet.
Yelis hat sich vorgenommen, diese Woche besser mitzumachen, Jonathan will sich nicht mehr so leicht ablenken lassen und Sophie möchte ihre rechte Hand mehr einsetzen. Weil sie nicht sprechen kann, sagt ihre Mitschülerin Khadija es für sie. Die schwerst mehrfach behinderte elfjährige Sophie besucht die fünfte Klasse der Friedenauer Fläming-Grundschule, an der schon seit über vierzig Jahren behinderte und nichtbehinderte Kinder zusammen unterrichtet werden.
„Sophie ist ein richtiger Sonnenschein“, erzählt ihre Lehrerin Britta Fellbaum. „Ihre gute Laune wirkt sich positiv auf die ganze Klasse aus“. In der Pause sausen Valentin und Lea mit Sophie im Rollstuhl über den Flur, in der Geschichtsstunde zum Thema Steinzeit wird sie von zwei Mitschülerinnen mit einem Fell zugedeckt, andere lesen ihr etwas vor oder drücken ihr kleine Plastik-Tierfiguren in die Hand. In der Fläming-Schule wird viel Wert auf ein gutes Miteinander, auf das Entwickeln von sozialen Fähigkeiten und Empathie gelegt. In der Sozialstunde erzählen die Schüler, wie sie sich diese Woche gefühlt haben, ob sie zufrieden mit sich waren, und woran sie in der nächsten Woche arbeiten wollen.
Viel vorgenommen hat sich auch der Senat für die Zukunft der Berliner Schulen. Bis 2020 sollen alle Schulen Inklusionsschulen werden, hofft der Beirat für Inklusion, den Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) im vergangenen Frühjahr einsetzte. Ihm gehören Schulleiter, Bezirksstadträte, Elternvertreter und Betroffenenverbände an. Sechs Mal wurde getagt, viel gestritten und jede Menge Sachverständige gehört: Wenn der Beirat am heutigen Dienstag zum letzten Mal tagt, dürfte Berlin einen großen Schritt weiter sein auf dem Weg zur Inklusion. „Wir sind ziemlich zuversichtlich, dass wir unsere Empfehlungen mit großer Mehrheit abstimmen können“, sagte die Beiratsvorsitzende Sybille Volkholz am Montag dem Tagesspiegel. Die Ergebnisse des Beirats sollen im Februar an Bildungssenatorin Sandra Scheeres überreicht und anschließend veröffentlicht werden.
Es geht um viel. Die Empfehlungen des Beirats sollen Anhaltspunkte darüber gehen, auf welchem Weg die weitestgehende Integration der Schüler mit Behinderungen – die Inklusion – vor sich gehen kann. Strittig ist vor allem, wie sicher gestellt werden kann, dass die Schulen genügend Personalmittel bekommen. Dreh- und Angelpunkt ist hierbei die Frage, von welchem Prozentsatz behinderter Kinder auszugehen ist. Denn an diesem Prozentsatz hängt die Personalzuweisung: Je mehr Prozent angesetzt werden, desto höher die pauschale Zuweisung an Sonderpädagogen für jede einzelne Schule.
Laut Volkholz gibt es gute Gründe, diese Quote nicht zu hoch anzusetzen, sondern auf etwa bei 5,5 Prozent zu beschränken. Schulen, die überdurchschnittlich viele Kinder mit Förderbedarf unterrichten, sollten aus einem zusätzlichen Pool weiteres Personal bekommen. „Ein solches Verfahren könnte entstehende Ungerechtigkeiten während der Übergangsphase erheblich abmildern“, mahnt die Beiratsvorsitzende, die als grüne Bildungssenatorin in den Jahren 1989/90 mit der Integration der Förderschüler begonnen hatte. Ihre Kritiker meinen jedoch, dass eine Quote von 5,5 Prozent von vorneherein viel zu niedrig angesetzt sei. Im bisherigen Gesamtkonzept „Inklusive Schule“ des Senats aus dem Jahr 2011 wird von 7,4 Prozent Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausgegangen (bezogen auf das Schuljahr 2008/09).
Schon jetzt sind bestimmte Förderungen nicht mehr möglich
Auch Rita Schaffrinna, die Leiterin der Fläming-Grundschule, warnt davor, an Förderstunden zu sparen. „Wenn es weitere Kürzungen gibt, können wir mit unserem Konzept so nicht weiter machen“, sagt sie. Schon jetzt seien gerade in der Schulanfangsphase, in der es nur eine pauschale Zumessung gebe, bestimmte Förderungen nicht mehr möglich. „Wir sehen, dass ein Kind Lernschwierigkeiten hat und eine Einzelförderung bräuchte. Doch manchmal können wir dann nur zusehen, wie sich die Schwierigkeiten immer weiter verschleppen und verfestigen“. Fragt man Schaffrinna, was zum Gelingen inklusiver Schule notwendig ist, dann kommt ihre Antwort schnell: „Genügend Personal. Das steht an erster, zweiter und dritter Stelle. Gut ausgebildetes, motiviertes Personal.“ Außerdem seien ausreichend vorhandene Räume wichtig. „Ohne die geht es auch nicht“, sagt Schaffrinna.
Bildungsexpertin Volkholz plädiert dafür, dass Sonderpädagogen künftig zusätzlich ein reguläres Schulfach studieren sollten. Andernfalls leide der fachliche Unterricht für die Schüler mit Behinderungen. Im Übrigen müsse erreicht werden, dass mehr Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Schule mit einem Abschluss verlassen können. Im Übrigen sei es wichtig, dass Schulen, die sich schon gut mit der Inklusion auskennen, „Tandems“ mit anderen Schulen bildeten, um in solchen Netzwerken den Austausch zu verbessern.
Um den Schulen auf dem Weg zur Integration und letztlich Inklusion zu helfen, soll es in jedem Bezirk Beratungs- und Unterstützungszentren (BUZ) geben. Außerdem ist geplant, dass in jedem Bezirk so genannte Schwerpunktschulen verbleiben, die sich auf die Förderung bestimmter Behinderungen spezialisiert haben. Aber auch sie sollen bis 2020 komplett durchmischt sein, so dass pro Klasse nicht mehr als drei Schüler mit Behinderungen vertreten sind. „Wir wollen keine verkappten Förderschulen behalten“, begründet Volkholz diese Beschränkung. Nach Auskunft von Landeselternsprecher Günter Peiritsch sind jedoch noch nicht alle betroffenen Eltern überzeugt, dass es auch ohne Sonderschulen geht. „Bevor man eine bedarfsgerechte Ausstattung verlässt, muss eine andere Alternative her“, gibt er die Bedenken wieder.
Tatsächlich sind derzeit erst etwa ein Viertel der Schulen für Rollstuhlfahrer geeignet. Die Kosten für den Ausbau aller Schulen werden auf einen mindestens dreistelligen Millionenbetrag geschätzt.
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