Grundschulreform: Sehnsucht nach der Vorklasse
Die Grundschulreform wird angesichts vieler überforderter Kinder zunehmend infrage gestellt. Viele Eltern und Lehrer wünschen sich die Vorklassen zurück und eine Verschiebung des Einschulungsstichtages.
Fünf Jahre nach dem Inkrafttreten der Grundschulreform wird der Ruf nach der Reform der Reform lauter. Vor dem Hintergrund der ungelösten Probleme mit einer Überzahl überforderter und sozial benachteiligter Kinder mehren sich Stimmen für eine Rückkehr der Vorklassen und eine Verschiebung der Schulpflicht. Zuletzt hatten die vielen „Verweiler“ in der Schulanfangsphase und die zunehmende Zahl von Schülern in der Psychiatrie zu Debatten geführt.
„Man hat das System Grundschule überspannt. Wenn es jetzt kollabiert, muss gehandelt werden“, mahnt die Vorsitzende des Grundschulverbandes, Inge Hirschmann. Dazu könne gehören, dass der Stichtag für die Einschulung wieder verschoben werde. Wer früher schulreif sei, könne ja auf Antrag dennoch eingeschult werden. Auch die Wiedereinführung der Vorklassen als „schulnahe Förderung“ müsse erwogen werden. Dies hätten sie und ihre Stellvertreterin Lydia Sebold schon gegenüber Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) vorgebracht. Der habe allerdings verhalten reagiert.
Die Vorklassen waren im Zug der Grundschulreform 2005 abgeschafft worden. Erwartet wurde, dass die Kitas die Rolle der Vorklassen übernehmen könnten. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Trotz ihres neuen ambitionierten Bildungsprogramms schafften es die Kitas nicht, die Kinder genügend auf die Schule vorzubereiten, konstatieren Schulleiter immer häufiger. Die Meinungen über die Ursachen gehen allerdings auseinander: Während einige Rektoren vermuten, dass die Kinder nicht regelmäßig genug in die Kita gehen, stellen andere fest, dass die Erzieher mit der Vielzahl an Problemkindern überfordert seien.
Hirschmann fragt sich, ob die zunehmenden Defizite der Kinder soziale Gründe haben oder eher durch die frühe Einschulung bedingt sind. Das sei bisher nicht untersucht worden. Tatsache ist, dass Berlin Spitzenreiter ist beim Anteil der Kinder mit „sozialen Risiken“: Er liegt bei 24 Prozent, wie gerade erst aus dem Nationalen Bildungsbericht hervorging. Zusätzlich verschärft wurden die Probleme der Grundschulen durch die mit der Reform einhergehende Abschaffung der Spezialklassen für Langsamlerner („Dehnklassen“) und für Lernbehinderte.
„Die frühe Einschulung war richtig, aber das Dogmatische war falsch“, konstatiert der Leiter der Bouché-Grundschule in Alt-Treptow, Tilo Rosenkranz. Er plädiert dafür, mehr Ausnahmen und Rückstellungen zuzulassen, wenn Kinder nicht reif seien. Das massenhafte „Verweilen“ in der Schulanfangsphase beschere den Kindern Misserfolge, die ihnen die Freude am Lernen nähmen: „Das schöne Erlebnis Schule wird von Anfang an vermiest“, sagt Rosenkranz. Aber auch die Lehrer könnten „nur verzweifeln“ angesichts vieler Probleme und knappen Personals. Die Integration der Lernbehinderten sei zwar im Prinzip richtig, „aber nur, wenn die Bedingungen stimmen“.
Auch die Opposition stellt Teile der Reform infrage. Die frühe Einschulung müsse „hinterfragt werden“, empfiehlt Özcan Mutlu von den Grünen. Mieke Senftleben (FDP) plädiert für mehr Rückstellungen, wenn Kinder nicht schulreif seien. Felicitas Tesch (SPD) kann sich eine Verschiebung der Schulpflicht oder eine Wiedereinführung der Vorklassen „nicht vorstellen“. Susanne Vieth-Entus