Anmeldeverfahren: Schülerandrang auf dem Campus Rütli
Nicht nur an der einstigen Neuköllner Problemschule sind für das kommende Schuljahr schon zahlreiche Anmeldungen eingegangen. Die Schulleiter befürchten durch das strenge Auswahlverfahren eine soziale Entmischung.
Am ersten Anmeldetag für die siebten Klassen haben nicht nur die bürgerlichen Eltern Schlange gestanden. Auch auf dem Neuköllner Campus Rütli harrten die ersten Mütter und Väter schon morgens um halb acht vor dem Sekretariat aus. Schulleiterin Cordula Heckmann war selbst verwundert über den Andrang. In den ersten drei Tagen habe sie mehr als 60 Anmeldungen auf den Tisch bekommen, vor allem von arabisch- und türkischstämmigen Eltern. Vergangenes Jahr seien es im selben Zeitraum nur etwa 15 gewesen. Auch an der ehemals als Problemschule verschrienen Institution könnte es knapp werden – denn es gibt nur 100 Plätze. Bis Freitagmittag lagen rund 70 Anmeldungen vor.
Die Leistungen der Antragsteller seien bunt gemischt, sagt Heckmann. „Zum Teil mit Gymnasialempfehlung, aber auch sehr schwierige Kinder, bei denen ich weiß, dass wir gut auf sie aufpassen müssen.“ Vom neuen Verlosungssystem für 30 Prozent der verfügbaren Plätze hätten die meisten Eltern im Kiez noch nichts gehört. Eine Frage sei ihr seit Montag immer wieder gestellt worden: „Und das ist jetzt ganz sicher, dass es mit dem Platz klappt?“ Heckmann musste vielen besorgten Müttern und Vätern beibringen, dass es auch an der Rütli-Schule keine Platzgarantie gibt.
Die zwölf Jahre alte Shasane rechnet mit einem Notendurchschnitt von 4,2 – ihr Name könnte daher im Lostopf landen. Sie solle ihr Glück lieber gleich woanders versuchen, habe ihre Wunschschule Hermann-von-Helmholtz geraten. Daher sitzt die Sechstklässlerin jetzt vor dem Sekretariat des Campus Rütli und füllt einen Anmeldebogen aus. „Meine Lehrerin hat gesagt, dass es hier nicht mehr so schlimm ist wie früher“, sagt sie. Ihr Vater nickt und ergänzt: „Ich hab’ gehört, hier hat sich viel verändert und da dachte ich, warum nicht?“ Die 1. Gemeinschaftsschule Berlin-Neukölln, die damals noch Rütli-Schule hieß, hatte 2006 traurige Berühmtheit erlangt. Mit einem Brandbrief schlugen die Lehrer Alarm, erzählten von Gewalt im Unterricht und auf dem Schulhof, von einer Atmosphäre der Angst.
„Es ist jetzt eine ganz normale Schule“, versichert Schulleiterin Heckmann. Das habe sich auch in der Umgebung herumgesprochen, wo Mund-zu-Mund-Propaganda eine größere Rolle spiele als in anderen Bezirken. „Wir mussten uns von dem Rütli-Ruf erstmal befreien.“ Der Andrang auf die siebten Klassen zeige, dass sich die Anstrengungen der vergangenen Jahre auszahlten. Das merken auch die Schüler. „Es gibt Hammer-Freizeitangebote“, sagt eine Siebtklässlerin. „Theater, Gitarre, Flöte…“, zählt sie auf. Sie wolle unbedingt Abitur machen und freue sich, dass es auf dem Campus Rütli ab 2011 eine gymnasiale Oberstufe geben soll.
Trotz der sichtbaren Veränderungen im Kiez haben aber viele immer noch Bedenken. „Wer ein Kind in der ersten Klasse hat, zieht aus Neukölln weg“, sagt Jeannette Bury, Erzieherin in einem nahe gelegenen Kindergarten. Vielen Eltern sei der Migrantenanteil an den Schulen einfach zu hoch. Heckmann bestätigt: „Wir verlieren viele Kinder schon mit der Einschulung.“ Sie wünscht sich eine „bessere Mischung“ der Schülerschaft. Von den 60 Anmeldungen der ersten Tage hätten nur etwa vier Kinder keine ausländischen Wurzeln.
Der Campus Rütli präsentiert sich einladend und farbenfroh. Am Eingang thronen zwei übergroße Frösche, einer mit blauem, einer mit grünem Kopf. Doch die Gegend um das Schulgelände ist rau, viele Häuserwände sind beschmiert. Einen krassen Kontrast dazu bilden die bunten Einfamilienhäuschen mit den gepflegten Vorgärten rund um die begehrte Fritz-Karsen-Gemeinschaftsschule. Neukölln hat hier ein völlig anderes Gesicht. An den ersten Anmeldetagen geht es jedoch ähnlich zu wie auf dem Campus Rütli: Mütter und Väter drängen sich vor dem Sekretariat. Die meisten Eltern hier haben sich allerdings ausgiebig mit Begriffen wie Förderprognose, Aufnahmekriterien und Losverfahren auseinandergesetzt.
„Die letzten Wochen waren anstrengend“, sagt Mutter Kathrin Lukas. „Man liest viel, man recherchiert viel und versucht, durch Nachrichten Neues zu erfahren.“ Ihr Sohn David habe zwar eine Gymnasialempfehlung, aber die Sorge bleibe. „Es ist schon ein sehr großer Druck, weil ich Angst habe, dass er nicht genommen wird.“ David sagt, das mit dem Aufnahmeverfahren habe er nicht so richtig verstanden. Er sei aber froh, dass sich seine Eltern um eine gute Schule bemühten. „Es geht ja um meine Zukunft.“
Bis Mittwoch sind 95 Anmeldungen bei Mittelstufenleiterin Karin Roswadowski eingegangen, am Freitag waren es schon 160 – bei 103 freien Plätzen. Und die Anmeldefrist läuft noch eine Woche. In der Anfangsphase sei ihrem Gefühl nach eine „qualitativ andere Klientel“ aufgetaucht als in den Vorjahren. „Sonst kamen in den ersten Tagen sehr viele Migranten, die schlecht Deutsch sprachen“, sagt sie. „Ich vermute mal, die versuchen es diesmal gar nicht erst.“ Schulleiter Robert Giese sieht die Gefahr einer sozialen Entmischung – genau diese sollte die Reform eigentlich verhindern. „Der Anteil derjenigen mit Gymnasialempfehlung, die sich anmelden, ist größer als sonst“, berichtet er. Es kämen sehr viel mehr bildungsbewusste Eltern als in den Vorjahren. 2012 wolle er an seiner Schule ein Verfahren einführen, bei dem es weniger auf die Durchschnittsnote ankomme. „Vielleicht nehmen wir die Note als Kriterium auch ganz raus.“
Das stets begehrte Neuköllner Albert-Einstein-Gymnasium im Ortsteil Britz – eine deutsch-italienische Europaschule – ist in diesem Jahr noch überlaufener als sonst. Schulleiter Holger Ambrosius rechnet mit 300 Bewerbungen bis zum Anmeldeschluss – bei 160 Plätzen. „Der Druck bei den Eltern ist immens und die Ungewissheit riesig“, sagt er. Bei einem Schnitt schlechter als 2,8 sei eine Bewerbung „praktisch aussichtslos“. Sein Rat in diesem Fall: „Überlegen Sie sich lieber eine Schule, wo die Chancen höher sind.“
Christine Cornelius