Früheinschulung: Die Engländer haben es vorgemacht
Warum die Briten gegen den Rat der Wissenschaft an der Früheinschulung festhalten – und zwar schon seit 1870.
In den letzten Jahren der britischen Labourregierung stießen zwei Expertenberichte zur Grundschulerziehung eine kritische Debatte über den Schulbeginn an. Dennoch bleibt England unter den frühesten Einschulungsländern im internationalen Vergleich. Das Schuleintrittsalter liegt bei fünf Jahren – so, wie es schon 1870 festgelegt wurde.
Im Jahr 2009 schlug ein umfassender, regierungsunabhängig finanzierter und von der Uni Cambridge durchgeführter Bericht zur Grundschulerziehung eine Debatte über die Heraufsetzung des Schulalters auf sechs Jahre vor. Die „Cambridge Primary Review“ erinnerte daran, dass Kinder „zunächst soziale Fähigkeiten, ihre Sprache und ihr Selbstvertrauen aufbauen müssen“. Dies geschehe am besten „mit strukturiertem Spielen und Reden“. Die Experten warnten, die Überforderung durch das Curriculum in der ersten Klasse könne „das Selbstvertrauen der Fünfjährigen herabsetzen und ihre Lernfähigkeit langfristig beschädigen“. Die Diskussion ähnelte auffällig jener, die zurzeit in Berlin geführt wird.
Doch wenige Wochen später setzte der damalige Labour Schulminister Ed Balls das Schuleintrittsalter nicht herauf, sondern noch weiter herab. Er bezeichnete den Bericht als „enttäuschenden Schritt zurück“ und wiederholte, was die Maxime bleibt: „Wir wollen, dass Kinder früh mit dem spielenden Lernen beginnen“.
Balls folgte einem von ihm selbst beim Chef der Erziehungsaufsichtsbehörde, Sir Jim Rose, in Auftrag gegeben Bericht, der die Vereinheitlichung des Schuleintrittsalters empfahl. Nun durften Kinder im September nach ihrem vierten Geburtstag eingeschult werden. Auch Rose hatte die Bedeutung des Spielens und informellen Lernens betont. Kern seiner Vorschläge war aber nicht die Heraufsetzung des Schuleintrittsalters, sondern die Abspeckung der von Labour aufgeblähten Lernpläne für die Kleinen.
Widersprüche zwischen den beiden Expertenberichten wurden anschließend vom Chef der Cambridge Review, Robin Alexander, heruntergespielt. Die Schuleintrittsdebatte sei irrelevant, entscheidend nicht, wann die Schule beginnt, sondern was die Kinder dort tun. Die Kernempfehlung der Cambridge Review sei nicht gewesen, das Schulalter heraufzusetzen, sondern die Vorschule bis sechs zu verlängern und die Erwartungen an formale Schulung zurückzuschrauben.
Mit der Früheinschulung sollte der Verwahrlosung begegnet werden
Bei der Festlegung des Schuleintrittsalters 1870 auf fünf Jahre war es weniger um pädagogische Überlegungen gegangen als um das Ziel, unbeaufsichtigte Kinder der Arbeiterklasse vor Verwahrlosung zu bewahren und ihnen rudimentäre und für die Wirtschaft nützliche Kenntnisse zu vermitteln. Kindergärten gab es nicht.
Heute sind die Ziele ehrgeiziger, aber soziale Erfordernisse wie Kinderbetreuung und Chancengleichheit diktieren immer noch die Schulpolitik. Auch die Sorge, dass zu viele englische Kinder die Schule als Analphabeten verlassen, spielt eine Rolle. Die Bildungspolitik wird von dem Misstrauen diktiert, dass viele Elternhäuser nicht in der Lage sind, Kinder in der Frühphase gut zu fördern.
Da es – anders als in Berlin – keine kostenlosen Kindergärten gibt, sind auch Eltern daran interessiert, dass die Kleinen so bald wie möglich unterm Schuldach Unterschlupf finden: Kindergärten sind teuer, Schulen kosten nichts.
„Jeder Monat früherer Schulbeginn vergrößert den Entwicklungsstand der Kinder“, argumentierte auch der aktuelle Schulminister Michael Gove, als er seinen neuen „Lehrplan“ für die Unterfünfjährigen in Kraft setzte. Anders als von Rose und Alexander angeregt, wurde der neue Lehrplan zwar verschlankt, aber die Anforderungen wurden verschärft: Lesen, Grammatik und die Grundrechenarten stehen im Mittelpunkt, eine Fremdsprache soll folgen.
Vorbilder sind nicht die Cambridger Reformpädagogen, sondern die als „leistungsstark“ angesehenen Lehrpläne des US-Bundesstaats Massachusetts und die Theorie des amerikanischen Pädagogen E.D. Hirsch und seiner Theorie des „Wissenskanons“. Die britische Bildungsdebatte geht weiter.
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