Alltag in einer inklusiven Schule in Berlin: Der Wahnsinn, ganz normal
Unterricht vertreten, Räume suchen, Streit schlichten: Der Alltag in der inklusiven Schule fordert Lehrer ständig neu heraus. Ein Schultag mit Frau Klatt und Herrn Brencher in der Klasse 4a der Kreuzberger Heinrich-Zille-Grundschule.
8.45 Uhr, Matheunterricht.
Der Streit tobt schon, als Gabriele Klatt gut gelaunt das Klassenzimmer betritt. Zwei Jungs zanken um einen Stuhl. Wessen Tasche lag zuerst auf dem begehrten Platz? Beide drängen zur Lehrerin, reden wild auf sie ein. Frau Klatt bleibt ruhig. Sie hört zu, lächelt, sucht einen Kompromiss. Als endlich alle sitzen, sind fünf Minuten um.
Ein Donnerstagmorgen in der Klasse 4a der Heinrich-Zille-Grundschule in Kreuzberg. Ein Problem ist gelöst, das nächste steht schon an. Frau Gausmann ist krank, die Mathelehrerin. Deshalb muss Frau Klatt, die Sonderpädagogin ist und Deutsch und Musik unterrichtet, jetzt Mathe machen. Aber erst mal muss sie für Ruhe sorgen. „Yasin* ist unruhig, wie wäre es mit etwas Bewegung?“, fragt die 51-Jährige. Die Kinder springen auf, sie wissen, was jetzt kommt. „Hello, children, listen what I say: This is going to be a happy happy day!“ ruft Frau Klatt. Die Kinder sprechen nach, wackeln mit den Hüften, klatschen in die Hände. Zwei Runden, dann sind alle still und setzen sich. Frau Klatt drückt Yasin sanft auf seinen Stuhl. Auch er ist jetzt ruhiger. Seine Schulhelferin setzt sich zu ihm.
Vier von 24 Kindern in der 4a haben einen diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf und werden nach einem eigenen Lehrplan unterrichtet. Yasin ist schwerst mehrfachbehindert und geistig auf dem Stand eines Kleinkindes; Deniz hat eine Hörbehinderung; Can ist sprachbehindert; Yasar hat eine Lernschwäche und Verdacht auf Dyskalkulie. Einige Kinder werden wegen Aufmerksamkeitsproblemen untersucht.
Frau Klatt teilt Arbeitsblätter aus. „Erst wenn ihr die Erklärung gelesen habt, dürft ihr Fragen stellen“, sagt sie. In der 4a arbeitet jeder nach seinem Tempo. Yasin bekommt ein Spielzeug mit geometrischen Formen; Yasar soll Zahlen in Hunderter- und Tausenderschritten schreiben. Frau Klatt bleibt bei Yasin. Wer Fragen hat, kommt zu ihr. Sie erklärt, lobt, hat alles im Blick und dabei immer eine Hand bei Yasin. Die 45 Minuten sind ratzfatz um. Nicht jeder wird mit den Aufgaben fertig.
9.45 Uhr, Sportunterricht. Klassenleiter Claus Brencher übernimmt. Es gab Probleme mit der U-Bahn, deshalb ist der 61-Jährige ein bisschen abgehetzt. Zeit zum Umziehen bleibt ihm nicht. Er wirbelt in die Turnhalle, begrüßt seine Schüler mit Handschlag, manche fallen ihm um den Hals. Dann geht es los. Erst Seilspringen, dann Völkerball. Yasin, der alleine nicht gut laufen kann, sitzt auf dem Boden und spielt Ball. Werfen kann er nämlich ziemlich gut. Julius, ein sportlicher Einserschüler, spielt mit ihm – die ganze Stunde lang. „Großartig“, lobt Herr Brencher, der regelmäßig schaut, ob bei den beiden alles in Ordnung ist.
Nach dem Sport macht die 4a im Klassenzimmer eine Frühstückspause. Die vierte und fünfte Stunde unterrichten die Pädagogen in Kleingruppen: Herr Brencher macht Englisch, Frau Klatt Deutsch; die Gruppen wechseln nach einer Stunde. Yasin braucht eine Pause, Frau Sürmeli legt ihn im Nebenraum hin.
Die personelle Ausstattung an der Heinrich-Zille-Grundschule, an der seit vielen Jahren Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen, ist vergleichsweise komfortabel. Brencher und Klatt sind in 13 von 29 Stunden gemeinsam in der 4a. Für 20 Stunden ist die Schulhelferin Sigrid Sürmeli mit in der Klasse – vor allem für Yasin, der gewickelt und intensiv betreut werden muss. Zum Kollegium gehören außerdem Erzieher, die in allen Klassen im Unterricht mithelfen.
Bevor es losgehen kann mit Deutsch, muss Frau Klatt das nächste Problem lösen: Sie braucht einen Raum. Platz ist knapp an der Heinrich-Zille-Grundschule. Den Gruppenraum neben der 4a haben die Klassenlehrer in den Herbstferien mithilfe von Eltern selbst renoviert. Aber dort schläft jetzt Yasin. Nur der Mehrzweckraum ist noch frei. Dort gibt es zwar kaum Stühle, aber Turnmatten. Die Kinder verteilen sich darauf, arbeiten im Sitzen oder Liegen. Frau Klatt lacht – und legt sich dazu: „Ist mal was anderes.“
In Deutsch und Englisch zeigt sich die enorme Bandbreite der Schüler am deutlichsten. Die Schüler sollten einen Text über ihr Fahrrad schreiben. Deniz hat einen Satz geschrieben. Laras Arbeit besteht aus eineinhalb Seiten, auf denen sie ihr Rad bis ins Detail beschreibt und schildert, wie viel leichter es sich mit ihrem Vater auf dem Tandem treten lässt.
Bei Herrn Brencher sitzt derweil Tom, der die ersten Lebensjahre in Australien verbracht hat. Die Vokabeln für Hose, Pullover und Handschuhe, die heute dran sind, kennt Tom seit dem Kindergarten. Er bekommt eigene Lesehefte, damit auch er etwas Neues lernt. „Über den schwachen Schülern die leistungsstarken nicht vergessen, das ist die größte Herausforderung“, sagen beide Pädagogen.
Zwei Schüler prügeln sich, Frau Klatt zerrt sie auseinander
12.20 Uhr, große Pause. Die Lehrer machen einen Abstecher ins Café. Unterwegs erzählt Herr Brencher von einem Konflikt, den Frau Klatt nicht mitgekriegt hat: Deniz hat eine Mitschülerin in der Pause mit Gesten rassistisch beleidigt.
Die größten Probleme stellen sich oft buchstäblich im Vorbeigehen. Während Herr Brencher den letzten Schluck Kaffee austrinkt, geht Frau Klatt schon vor ins Schulhaus. Und kommt zufällig dazu, wie sich zwei ihrer Schüler heftig prügeln. „Die haben sich richtig ineinander verbissen“, erzählt sie später. Worum es geht, kann sie auf die Schnelle nicht feststellen. Sie zerrt die beiden auseinander, beruhigt sie vorläufig – und bestellt sie für nach dem Unterricht zum Gespräch.
12.50 Uhr, Musikunterricht. Von der Wut der beiden Streithähne ist fast nichts mehr zu spüren. Frau Klatt übt mit der Klasse Rhythmus, die Kinder klatschen zu den Schlägen eines Metronoms. Nach einer Dreiviertelstunde wechselt Frau Klatt den Raum, sie gibt noch einer anderen Klasse Musik. Herr Brencher zeigt der Klasse noch ein Video von einem Rap.
„Wir bilden einen Stuhlkreis“, sagt er dann. Einmal pro Woche ist Klassenrat. Erst gibt es eine Lobrunde: Reihum sagt jeder etwas Nettes über einen anderen Schüler oder Lehrer. Anschließend darf jeder sagen, was ihn stört. Heute wird beschlossen, einen Kummerkasten für anonyme Kritik einzurichten. Dann lässt Herr Brencher über eine Klassenfahrt abstimmen. Drei Schüler melden sich und geben zu, dass sie aus Angst vor Heimweh nicht so gern mitfahren wollen.
14.20 Uhr, Schulschluss. Die 4a geht fast geschlossen in den Hort. Frau Klatt schnappt sich die beiden Streithähne von vorhin. Eine halbe Stunde spricht sie mit ihnen, dann geben sich beide die Hände. „Ist das jetzt okay für euch?“, fragt die Lehrerin. Beide nicken vorsichtig.
15 Uhr, Bilanz. Klatt und Brencher setzen sich auf das Sofa in ihrem Klassenzimmer. Die Bilanz? Es war ein ganz normaler Schultag. Es wurde gelacht, es gab Streit, die Lehrer mussten auch mal schimpfen. Fast jede Stunde ein Kampf gegen die Uhr. Ruhige Minuten hatte keiner von beiden. „Man kommt um 8 Uhr rein und ist von da an in jeder Minute ansprechbar“, sagt Frau Klatt. „Ich liebe meinen Beruf. Aber an vielen Tagen muss ich mir sogar die Zeit fürs Klo abzwacken.“
*Die Namen aller Kinder sind geändert.
Inklusion kostet: Was die GEW fordert
Inklusion kostet: Das ist die zentrale Aussage des Forderungskatalogs für inklusive Bildung, den die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) vor wenigen Tagen vorgestellt hat. Ein Überblick.
MEHR LEHRER
Aktuell haben 7,2 Prozent aller Berliner Schüler einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Für den flächendeckenden Start der Inklusion (nicht vor 2016) plant der Senat mit niedrigeren Förderquoten – worüber heftig gestritten wird. Die GEW warnt vor einem Sparprogramm und fordert mindestens 510 zusätzliche Lehrer-Vollzeitstellen.
FORTBILDUNG
Zur Qualifizierung der Lehrer für die Inklusion fordert die GEW über einen Zeitraum von zwei Schuljahren monatlich vier Stunden Fortbildung pro Lehrer. Diese Stunden sollen auf die Unterrichtsverpflichtung angerechnet werden. Zusätzlicher Personalbedarf: 980 Vollzeitstellen.
BERATUNG
Die GEW fordert (im Einklang mit dem von Senatorin Scheeres eingesetzten Inklusionsbeirat), Zentren für Inklusion an allen Schulen einzurichten. Dafür sollen ein bis zwei Lehrkräfte frei- oder neu eingestellt werden. Zusätzlicher Personalbedarf: 1050 Vollzeitstellen.
KLEINERE KLASSEN
Um individuelle Förderung zu ermöglichen, soll die Klassengröße reduziert werden: auf maximal 24 Schüler in Grundschulklassen und 25 Schüler in den weiterführenden Schulen. Außerdem fordert die Gewerkschaft, die Unterrichtsverpflichtung der Lehrkräfte an allen Schularten auf 25 Stunden zu reduzieren.