Großprojekt Inklusion: Berlins Schulen müssen für behinderte Kinder nachrüsten
Der Senat will, dass sich Berlins Schulen besser auf die Bedürfnisse besonders förderungsbedürftiger Kinder einstellen. Nur kosten darf das nichts. Viele Schulen sind überfordert.
Das Thema betrifft etwa jeden sechsten Berliner: Rund 600 000 Menschen in der Stadt sind behindert, zwei Drittel von ihnen schwer. Vor allem die Alterung der Gesellschaft lässt den Anteil stetig steigen. Und doch steht der Jahresbericht des Berliner Behindertenbeauftragten Jürgen Schneider an diesem Montag nur als „Vorlage zur Kenntnisnahme“ ohne weitere Besprechung auf der Tagesordnung des Gesundheitsausschusses im Abgeordnetenhaus. Das Dokument liest sich wie ein Beleg für den Slogan: „Behindert ist man nicht, behindert wird man.“
Ausführlich widmet sich der Bericht dem Großprojekt „Inklusive Schule“, mit dem die Bildungsverwaltung die seit 2009 verbindliche UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen will: Perspektivisch sollen alle besonders förderbedürftigen Kinder auch in die nächstgelegene Schule gehen dürfen. Der Bericht bezeichnet das 2011 vom Senat beschlossene Vorhaben als „ambitioniert“, zumal es auf einer schon bisher im Bundesvergleich erfreulich hohen Integrationsquote beruhe. Aber das Konzept erfasse nicht alle Schultypen und beraube sich „durch das Gebot der Kostenneutralität (…) seiner eigenen Grundlagen“. Während die Bildungsverwaltung betont, das Konzept sei „kein Sparmodell“, mahnt der Bericht, das Vorhaben sollte „nicht irgendein neues Schulkonzept unter anderen sein“. Denn „nur die inklusive Schule wird in der Lage sein, mehr Menschen mit Behinderung als bisher auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten“.
Bildergalerie: Baustelle Schule - das sagen die Schulinspektoren über Berliner Schulen
Wie berichtet hat Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) den Schulen für die Umsetzung ein Jahr mehr Zeit gegeben. Parallel arbeitet ein Beirat an Details. Wie schwierig die Praxis ist, zeigt eine Zwischenbilanz der Arbeitsgruppe „Inklusion an Schulen“ aus dem Bezirk Lichtenberg vom März: Viele Schulen seien schon jetzt an ihrer räumlichen Kapazitätsgrenze, so dass der zusätzliche Platzbedarf etwa für Teilungs- und Fördergruppen sowie die pflegerische Betreuung sie „vor unlösbare Herausforderungen stellen“ werde.
Die Vorgaben sind gemacht - doch bei der Umsetzung hapert es.
Sybille Volkholz, die dem Beirat zur Inklusiven Schule vorsitzt, betont: „Die Förderung ist nicht nur eine Frage der Ausstattung, sondern auch der Haltung.“ Im Klartext: Es geht nicht nur um zusätzliche Räume und behindertengerechte Einbauten wie Fahrstühle, sondern auch um die Ambitionen der einzelnen Schulen, sogenannten LES-Schülern selbstverständlich Plätze anzubieten. Das Kürzel LES steht für „Lernbehinderung emotional-sozial / Sprache“ und betrifft nach Auskunft von Volkholz rund drei Viertel der besonders förderbedürftigen Schüler. Eine Entspannung der baulichen Probleme verspricht sich Volkholz davon, dass sich auch die heutigen Förderzentren öffnen und langfristig zu allgemeinen Schulen werden – mit oft günstigen baulichen Voraussetzungen.
Dass selbst Neubauten für Behinderte zu No-Go-Zonen werden können, zeigt der Bericht anhand des Ende 2009 eröffneten Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums. In dem von Architekturkritikern bejubelten Bibliotheksneubau der Humboldt-Universität fehlten die laut Bauordnung vorgeschriebenen durchgehenden Treppengeländer ebenso wie Leitsysteme für Blinde, behindertengerechte Arbeitsplätze und Toiletten. Zwar sind die Mängel inzwischen behoben, aber ein von vornherein korrekter Bau hätte viel Geld und Ärger gespart. Der Bericht schildert das Beispiel der Bibliothek nicht als „Schuldzuweisung“, sondern als Beleg für Defizite bei der Anwendung und Kontrolle geltender Bauvorschriften.
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