Kein Unterricht in Berlin-Lichtenrade: Schule schließt wegen Masern: "Vollkommen überzogen"
Soll es eine Impfpflicht gegen Masern geben? Das Thema ist umstritten. Derweil schließt heute in Berlin gleich eine ganze Schule wegen der Krankheit - was das Gesundheitsamt für überzogen hält.
Und plötzlich fiel der Unterricht wegen Masern aus: Nachdem die Lichtenrader Carl-Zeiss-Sekundarschule wegen der Erkrankung eines Schülers am Montag geschlossen blieb, gibt es nun Kritik an der Entscheidung des Schulleiters. Als "vollkommen überzogene Maßnahme" bezeichnete die Gesundheitsstadträtin von Tempelhof-Schöneberg, Sibyll Klotz (Grüne) das Ganze. Über die Schulschließung hatte die Gesamtelternvertretung am Sonntag alle Eltern in einem Rundschreiben informiert. Grund dafür ist eine offenbar schwere Masernerkrankung bei einem der Schüler. Schulleiter Stephan Zapfe ergänzte am Montagmorgen, es handele sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme. Er habe diese Entscheidung gefällt, weil das Gesundheitsamt am Wochenende nicht zu erreichen gewesen sei.
Diesen Vorwurf wies die Stadträtin zurück. Das Gesundheitsamt habe der Schule empfohlen, am Montag zunächst einmal zu klären, welche Schüler und Lehrer einen Impfschutz haben. Allerdings sei am Freitag um 14 Uhr nicht der Schulleiter, sondern nur die Sekretärin erreichbar gewesen. Zudem müsse jede Schule Alarmpläne mit allen Nummern für Notfälle haben. Zudem sei die Leiterin des Gesundheitsamtes am Freitag bis 19 Uhr im Dienst, mithin erreichbar, gewesen. Die Leiterin werde im Laufe des Montags mit dem Schulleiter sprechen, um zu klären, warum kein Kontakt zustande kam.
Die Sprecherin der Bildungsverwaltung, Beate Stoffers, wusste am Montagmorgen noch nicht, dass das Gesundheitsamt bereits am Freitagmittag bei der Schule angerufen hatte. Sie ging deshalb davon aus, dass die vorgeschriebene Meldekette nicht funktioniert habe. Nach ihrer Kenntnis war der Schulleiter erst gegen 15.30 Uhr vom Vater des erkrankten Jungen informiert worden. Mit 1025 Schülern ist die Tempelhofer Zeiss-Sekundarschule eine der größten allgemein bildenden Schulen Berlins.
Alarmstufe herrschte auch in Berlin-Kladow
Das neue Schuljahr war erst zwei Wochen alt, da wurde die Routine auch an einer Grundschule in Berlin-Kladow plötzlich unterbrochen. Ein Kind aus der vierten Klasse hatte Masern – bei Schulleitung, Gesundheitsamt und Schulaufsicht herrschte erhöhte Alarmstufe. Das Kind war nicht gegen die Krankheit geimpft, vermutlich hatte es sich bei einem Erwachsenen mit dem Virus infiziert.
Der Fall steht exemplarisch für ein drängendes Problem: Zwar hatten Gesundheitspolitiker schon auf Entspannung gehofft, doch am Freitag wurde bekannt, dass allein in der vergangenen Woche 70 neue Masernfälle in Berlin gemeldet wurden. "Damit gibt es 568 Fälle seit Oktober 2014", sagte die Sprecherin der Senatsgesundheitsverwaltung, Constance Frey, am Sonntag dem Tagesspiegel. "Das ist der größte Masernausbruch seit Beginn der Meldepflicht im Jahr 2001."
Masernfrei? Deutschland schafft es wieder nicht
Mehr als jeder vierte Erkrankte musste wegen schweren Verlaufs ins Krankenhaus, sagte die Sprecherin weiter. Und fast 90 Prozent der Erkrankten hätten angegeben, dass sie nicht gegen Masern geimpft waren. Dies und der Ärger darüber, dass Deutschland eigentlich im Jahr 2015 masernfrei sein wollte und es – wie bereits 2000 und 2010 – nicht schafft, lässt Medienberichten zufolge inzwischen auch Bundespolitiker über eine gesetzliche Impfpflicht nachdenken. Im vergangenen Jahr wurden bundesweit 1771 Masernfälle registriert.
Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Karl Lauterbach forderte eine konzertierte Aktion von Gesundheitspolitikern aller Parteien und Ärzteverbänden, um eine große Impfwelle in Gang zu setzen. Nötig sei in den nächsten Wochen ein breit angelegter Kraftakt zur Steigerung der Impfbereitschaft. „Wenn das nicht gelingt, dann muss eine Impfpflicht für Kleinkinder der nächste Schritt sein.“
Von einem „Kraftakt“ zur Steigerung der Impfbereitschaft ist auch im Bundesgesundheitsministerium oft die Rede. Sprecherin Katja Angeli sagte dem Tagesspiegel, das entsprechende Präventionsgesetz werde noch dieses Jahr in Kraft treten. Darin sei unter anderem festgeschrieben, dass vor einer Kita-Aufnahme die Eltern eine ärztliche Impfberatung nachweisen müssen. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) appellierte: „Der Masernausbruch in Berlin zeigt, wie wichtig ein guter Impfschutz ist.“
Impfpflicht nur mit Grundgesetzänderung
Von Impfzwang will Gröhe aber nicht reden. „Das wäre in seiner Partei auch nicht mehrheitsfähig“, sagte der Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland, Ulrich Fegeler. Dazu bedürfe es einer Grundgesetzänderung, da es ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gebe. Dennoch sei es ein Akt der Kindeswohlgefährdung und damit eine Straftat, Kindern den Schutz vor gefährlichen Krankheiten durch Impfungen vorzuenthalten.
Bei einer Kita-Leiterin aus Berlin-Tempelhof stößt Fegeler damit auf wenig Verständnis. Sie reagiert „sehr reserviert auf das Thema Impfung gegen Masern“. An ihrer Kindertagesstätte gebe es glücklicherweise derzeit noch keinen Fall, sagt sie. Als Mutter aber habe sie sehr schlechte Erfahrungen mit einer Masernimpfung gemacht. Ihre damals siebenjährige Tochter sei geimpft worden und kurz danach „regelrecht zusammengeklappt“. Zwei Wochen lang sei das Kind schwer krank gewesen und habe 40 Grad Fieber gehabt. Zudem habe es unter einem Ausschlag gelitten. Auch in der Kita, wo die Mitarbeiter angehalten seien, Impfungen zu empfehlen. habe sie bisher die Erfahrung gemacht, dass Eltern eher zurückhaltend darauf reagierten.
2014 hatte es Fälle von Windpocken gegeben, die sie als Kita-Leiterin dem zuständigen Gesundheitsamt gemeldet habe. Die Kinder, die sich angesteckt hatten, waren nicht gegen Windpocken geimpft. Das Gesundheitsamt habe die Eltern der Kinder angerufen und gefragt, weshalb ihre Kinder nicht geimpft seien. Durch diesen Anruf, sagt die Kita-Leiterin, hätten sich die Eltern „bedrängt und gegängelt gefühlt“.
Größte Impflücken bei Erwachsenen
Minister Gröhe versteht das nicht. „Wer seinem Kind Impfschutz verweigert“, sagte er, „gefährdet nicht nur das eigene Kind, sondern auch andere.“
Auch Berlins Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) sagte dem Tagesspiegel: „Ich bin ein Freund der Impfpflicht für Masern.“ Bei diesem Punkt gebe es aber in Deutschland keinen Konsens. Außerdem „treten die größten Impflücken bei Erwachsenen auf, bei denen eine Impfpflicht schwer durchzusetzen ist“. Bei der Schuleingangsuntersuchung hingegen habe Berlin mit 96 Prozent bei der Erstimpfung und 91 Prozent bei der Zweitimpfung gute Quoten vorzuweisen.
Ausreichend sei das nicht, sagt Kinderarzt Fegeler. Sein Verband fordert, dass die Aufnahme in staatliche Einrichtungen wie Kindergärten oder Schulen vom Nachweis der empfohlenen Impfungen abhängig gemacht wird: „Es ibt so viele Menschen mit geschwächten Immunsystemen, die durch eine vermeidbare Ansteckung mit Masern in lebensbedrohlichen Zustand geraten könnten, dass eine solche Maßnahme durchaus vertretbar ist.“
Das Robert-Koch-Institut teilt zum Thema Impfung mit: „Es ist unbestritten, dass Impfstoffe Nebenwirkungen haben können. In den vergangenen Jahren ist darüber gestritten worden, ob Autismus, Diabetes oder selbst Multiple Sklerose durch Impfungen ausgelöst werden könnten. Einen Nachweis dafür gibt es allerdings bis heute nicht.“ Vielmehr sprächen die Ergebnisse vieler Studien gegen einen Zusammenhang zwischen Impfungen und den genannten Krankheiten.