Inklusion bei BVG und S-Bahn: Schon viele öffentliche Verkehrsmittel in Berlin sind barrierefrei
Die meisten Stationen von S-Bahn und BVG sind schon den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung angepasst, der Rest folgt bis 2020. Doch nicht jede Idee wird umgesetzt.
Berlins Bewerbung um Olympia 2000 mag lausig gewesen sein – aber zumindest für viele Behinderte war sie nicht vergeblich. Denn zu Olympischen Spielen gehören Paralympische, und für die wurde eine Leitlinie entwickelt, die seit 1992 gilt. „Dadurch, dass wir so früh angefangen haben, sind wir den meisten Städten in Deutschland und Europa voraus“, sagt Jürgen Schneider, der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, wenn man ihn nach dem Stand der Dinge fragt und um einen Blick über den Tellerrand bittet. Subjektiv empfinden es vor allem eingeschränkt mobile Menschen oft noch immer als mühsam, mit Bus und Bahn durch die Stadt zu kommen. Aber die Zahlen der Verkehrsunternehmen zeigen, wie viel erreicht wurde: Von 173 U-Bahnhöfen sind 106 stufenlos zugänglich, bei der S-Bahn sogar 141 von 154. Noch in den 1980er-Jahren „gab es keinen einzigen Aufzug“, sagt Schneider. Jetzt nennen BVG und S-Bahn das Jahr 2020 als Zielmarke für durchweg stufenlosen Zugang – zumindest „im Berliner Stadtgebiet“, wie es bei der S-Bahn heißt, deren Züge überwiegend bis ins Umland fahren.
Bei der BVG bezieht sich die Zielmarke auf den stufenlosen Zugang zu allen U-Bahnhöfen. Darin sind auch jene Bahnhöfe auf der U 5 in Hellersdorf enthalten, die in den 1980ern mit Betonrampen gebaut wurden. Sie sollen erst später mit Aufzügen nachgerüstet werden, weil die Rampen mit zehn Prozent Neigung nach heutigen Maßstäben zu steil sind. Aber für das Gros der Nutzer sind sie dennoch ein Segen – ob es nun halbwegs mobile Rollstuhlfahrer, Menschen mit Rollatoren oder Eltern mit Kinderwagen sind.
Die Dringlichkeit des barrierefreien Ausbaus der Stadt ergibt sich für Schneider auch aus der Demografie: Die Zahl der Hochbetagten – Menschen über 80 Jahre – soll sich bis 2030 auf fast 230 000 verfünffachen. Das entspricht der Einwohnerschaft eines ganzen Bezirks, bei der sich laut Schneider altersbedingt „multiple Behinderungen häufen, die der Geburtsbehinderung immer ähnlicher werden“: Die Betroffenen können schlecht laufen, schlecht hören und sehen und sind womöglich auch geistig nicht mehr ganz fit. Da wiegt es umso schwerer, dass Tante Emma im Kiez längst geschlossen hat und der nächste Supermarkt oft nicht fußläufig erreichbar ist.
Immerhin sind die rund 1300 Busse der BVG seit Jahren durchweg Niederflurmodelle und mit mechanischen Klapprampen für Rollstuhlfahrer bestückt. Das von der BVG vor etwa zwei Jahren erwogene „Bedarfskneeling“ – also die Senkung des Busses nur noch auf Anforderung – ist nach Protesten Betroffener von der Politik gestoppt worden. Mehr als 1000 Fahrgäste im Rolli seien täglich per Bus unterwegs, sagt Schneider. Das dürften sogar mehr sein als beim Sonderfahrdienst des Landes. Bei der Straßenbahn sollen die letzten Tatra-Modelle mit ihren hohen Stufen 2017 ausrangiert werden. Schon jetzt werden laut BVG 19 von 21 Linien ganz oder teilweise mit barrierefreien Zügen bedient. Wo verschiedene Modelle fahren, sind die Wechsel auf den Fahrplänen markiert. Ein Service, von dem Gehbehinderte ebenso profitieren wie junge Familien.
Während die Straßenbahnen in Verbindung mit modernen Haltestellen stufenlos erreichbar sind, hapert es bei vielen der gut 7000 Bushaltestellen nicht nur an der Bordsteinhöhe: Sobald Autos zu nahe an den Haltebuchten stehen, kann der Busfahrer nicht ganz rechts ranfahren – eine gefährliche Stufe oder Lücke tut sich auf, und die Rampe liegt zu steil.
Dass bei Bus und S-Bahn altertümliche Klapprampen benutzt werden, findet Schneider sinnvoll: Die hydraulischen Vorgängermodelle an Bussen seien zwar komfortabler, aber störanfällig gewesen. Auch das System der S-Bahn, wo die Fahrer die blecherne Rampe vom Bahnsteig holen und an der vorderen Tür anlegen müssen, bewähre sich: Er habe „seit Jahren keine Beschwerden mehr von Einheimischen gehabt“, weil ein Fahrer ihren Aussteigewunsch vergessen habe.
Uneins sind sich der Landesbeauftragte und die BVG bei der Ausstattung der Verkehrsmittel für Hör- und Sehbehinderte. Denen wird üblicherweise durch das sogenannte Zwei-Sinne-Prinzip geholfen. Die von der BVG kürzlich bestellten Scania-Busse werden zwar mit einer roten Lampe beim Schließen der Türen warnen. Aber auf Außenansagen zu Linien und Fahrziel wie bei der U-Bahn verzichtet die BVG. Solche Ansagen an Haltestellen würden Anwohner zu sehr belästigen, heißt es bei dem Landesunternehmen. Ansagen bei Bedarf – beispielsweise eine App, die den Text auch wiederholen kann – seien sinnvoller. Schneider kontert: Wer ohnehin nicht fit sei, habe keine Nerven fürs Smartphone, wenn der Bus kommt. Und in den älteren U-Bahnen vermisst Schneider auf den Bildschirmen des „Berliner Fensters“ zwischen den Werbeblöcken die Anzeigen der nächsten Station.
Sowohl BVG als auch Bahn betonen, dass der barrierefreie Ausbau nicht nur Investitionen, sondern auch Unterhaltungskosten verursacht – etwa für den Betrieb von Aufzügen, für die im öffentlichen Betrieb strengere Vorschriften gelten als in Wohngebäuden. Die Verkehrsunternehmen verbessern die Bedingungen vor allem, wenn Bahnhöfe ohnehin umgebaut werden. Deshalb haben erst zwei Drittel der U-Bahnhöfe taktile Blindenleitsysteme mit Leitstreifen zum Ertasten im Boden, teilweise auch mit Hinweisen in Brailleschrift etwa an der Unterseite von Treppengeländern. Das Land fördert den Ausbau finanziell.
Bei der Bahn gilt bundesweit eine Priorität für Stationen mit mehr als 1000 Reisenden pro Tag. Das betrifft nur ein Drittel der Bahnhöfe – aber es nützt bei konsequenter Umsetzung rund 95 Prozent aller Reisenden.