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Frauen sind drei Mal häufiger von Migräne betroffen als Männer
© Christin Klose/dpa

Migräne: Schmerzen im Schädel

Sie gilt denen, die nicht unter ihr leiden, als Krankheit, die man nicht ganz ernst nehmen muss. Doch von Migräne sind täglich 900 000 Menschen betroffen. Was sind die Ursachen, und wie lässt sie sich behandeln?

Der Migräne haftet noch immer der Ruf einer Simulantenkrankheit an, die gern vorgeschoben wird, um krank zu machen. Und es soll auch immer noch Männer geben, die noch ein Schuss Machismo dazugeben: Das Weib schütze die Migräne nur vor, um sich dem Beischlaf zu entziehen. Die Erkrankung wird also oft lächerlich gemacht oder lapidar als zu ertragender Kopfschmerz abgetan. Doch man stelle sich folgende Situation vor: Sie sitzen in einer Boeing 747. Mitten über dem Atlantik wird ihnen mitgeteilt, dass ihre Maschine abdrehen muss, um den nächstmöglichen Flughafen anzusteuern – weil einer der beiden Piloten einen heftigen Migräneanfall hat. Wer nun denkt, mit dem bisschen Kopfschmerz wird man ja wohl noch ein Flugzeug steuern können, der kennt die Symptome einer Migräne nicht. Mit jedem Herzschlag pulsiert und pocht im Schädel ein äußerst starker Schmerz. Hinzu können Begleiterscheinungen wie Übelkeit und Erbrechen kommen. Alltagsgeräusche werden zu malträtierendem Lärm. Licht wird zum Feind. Bereits ein grauer, wolkenverhangener Herbsttag genügt, um den Migräneleidenden schmerzvoll zu blenden. Hinzu können Einschränkungen des Sichtfeldes kommen, ähnlich einem Tunnelblick. Kurzum, jeder Sinnesreiz ist einer zuviel. Und für unseren Piloten heißt das: definitiv fluguntauglich – Mayday Migräne. Klingt zu konstruiert? Ist aber genau so im Jahr 2012 auf dem Flug LH403 von New York nach Frankfurt am Main passiert. Glücklicherweise befand sich unter den Passagieren ein Pilot, der den erkrankten Co-Pilot ersetzen konnte und bei der außerplanmäßigen Landung in Dublin assistierte. Die Airline beteuerte zwar, dass das Flugzeug zur Not auch nur vom Kapitän hätte sicher gelandet werden können – wenn es allerdings fachkundige Hilfe an Bord gebe, werde die auch genutzt. Der Vorfall verdeutlicht jedenfalls eines: Migräne ist kein Hypochondertum, sondern eine ernstzunehmende Erkrankung, die zum menschlichen Totalausfall führen kann.

Auch Familie und Gesellschaft leiden darunter

In der Regel dauert eine Migräne-Attacke zwischen vier und 72 Stunden. Und im Durchschnitt leiden Betroffene an 2,6 Tagen im Monat unter Migräne. Doch es gibt auch besonders schwere Fälle: „Rund zwei Prozent der Weltbevölkerung leidet unter chronischer Migräne, also an mehr als 15 Tagen pro Monat", sagt Hartmut Göbel, Chefarzt der Schmerzklinik Kiel und Mitinitiator des bundesweiten Kopfschmerzbehandlungsnetzes.
Unter Migräne leiden jedoch nicht nur die Betroffenen, sondern auch Familie und Gesellschaft. „In dieser Zeit können sie nicht Partner für ihren Partner sein, nicht Eltern für ihre Kinder“, sagte der Schmerzexperte auf einem Migräne-Fachforum im Verlag Der Tagesspiegel vergangene Woche. „Jeden Tag sind in Deutschland 900 000 Menschen von einer Migräne betroffen und davon 100 000 arbeitsunfähig und bettlägerig“, so Göbel.
Migräne bremst nicht nur die individuelle, sondern auch die makroökonomische Produktivität. Nach einer vom Pharmakonzern Novartis in Auftrag gegebenen Studie des Darmstädter Wifor-Instituts gehen der deutschen Volkswirtschaft durch migränebedingte Arbeitsausfälle rund 146 Milliarden Euro pro Jahr verloren. „Das entspricht in etwa dem Beitrag der deutschen Automobilindustrie zum Bruttoinlandsprodukt“, sagte ebenfalls vergangene Woche Mitreferent und Wifor-Geschäftsführer Dennis Ostwald.
Was ist dran an dem Stereotyp, Migräne sei eine Frauenkrankheit? Richtig ist, dass Frauen drei mal häufiger an einer Migräne erkranken als Männer. Doch was den sich nun vielleicht bestätigt fühlenden Macho weniger freuen dürfte, ist dies: Viele Wissenschaftler vertreten die Theorie, dass dies an der schnelleren, aktiveren Reizverarbeitung des Nervensystems liegt – darüber können sich auch alle migränebetroffenen Männer, die hier nicht vergessen werden sollen, freuen. „Menschen mit Migräne können Reize sehr intensiv und differenziert wahrnehmen und schnell verarbeiten“, erklärt der Neurologe und Schmerztherapeut Göbel. Und das führe auch immer wieder zu herausragenden Leistungen wie bei der migränemalträtierten Marie Curie, die als einziger Mensch in gleich zwei Wissenschaften mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.
Wenn das Nervensystem also so leistungsfähig ist, warum kommt es dann zum plötzlichen Zusammenbruch? Wodurch wird eine Migräneattacke ausgelöst und was passiert dabei im Hirn? Bereits seit dem 19. Jahrhundert gingen Forscher aufgrund von familiären Häufungen von einer genetischen Komponente aus. Mittlerweile wurden 38 Gene identifiziert, die unter anderem neuronale Prozesse wie Reizübertragung, -empfindlichkeit und -verarbeitung steuern. Diese Gene bestimmen, wie empfindlich ein Mensch auf äußere Reize reagiert und ob eine Migräne ausgelöst wird. „Alles zu Schnelle, alles zu Viele, alles zu Plötzliche oder Intensive führt zu einer zu starken Aktivierung des Nervensystems“, sagt Hartmut Göbel. Doch das hat seinen Preis: Die auf Hochtouren laufenden Nervenzellen erschöpfen ihre Energievorräte, bis letztlich der Stoffwechsel entgleist und es zur Fehlfunktion der Nerven kommt. Dabei werden Entzündungsstoffe freigesetzt, die zu einer verstärkten Empfindlichkeit der Hirnhäute führen. Jeder Pulsschlag wird so zu einem hämmernden Schmerz.

Das Wichtigste: Maß- und Innehalten lernen

Genetische Komponenten und Umwelteinflüsse, auch Trigger genannt, müssen also zusammenwirken, um eine Attacke auszulösen. Während an ersteren (vorerst) nicht zu rütteln ist, können letztere sehr wohl beeinflusst werden. Migränebetroffene müssen vor allem eines lernen: das Maßhalten mit den Sinneseindrücken. „Die wichtigste Regel ist die Regelmäßigkeit“, sagt Schmerzexperte Göbel. Er empfiehlt regelmäßigen Schlaf, Pausen im Alltag und Entspannungstrainings wie beispielsweise die progressive Muskelrelaxation. Auch Ausdauersportarten wie Joggen, Schwimmen oder Fahrradfahren helfen, das Gleichgewicht zwischen An- und Entspannung zu wahren. „Man sollte nicht immer auf 180 Prozent zielen, 100 Prozent Einsatz reichen aus.“ Eine erfolgreiche Migränetherapie verlangt dem Betroffenen in unserer schnelllebigen Gesellschaft viel Disziplin ab, und das ein Leben lang. „Das ist vergleichbar mit anderen chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck.“
Dass das Maß- und Innehalten unserer Gesellschaft immer weniger gelingt, zeigt auch der deutliche Zuwachs von über 300 Prozent von besonders jungen Migränepatienten. „Bereits die Kindheit ist heute geprägt von immer mehr Aktivität und Termindruck“, sagt Göbel. Schule, Klavierunterricht, Fußballverein: Bei aller gut gemeinten frühen Förderung vergessen viele Eltern schlicht, dass Kinder auch Ruhepausen brauchen. Zeit für Muße zu haben ist nicht nur gesund, sondern kann auch die besten Ideen hervorbringen.
Ein ausgeglichener Lebenswandel kann also Migräneattacken vorbeugen. Treten sie trotzdem auf, benötigen die meisten Patienten eine medikamentöse Akutbehandlung. Während bei leichten Attacken frei verkäufliche Schmerzmittel wie Acetylsalicylsäure, Ibuprofen oder Paracetamol eingesetzt werden können, finden bei schweren Anfällen sogenannte Triptane Einsatz. Triptane blockieren die Freisetzung von Nervenbotenstoffen und wirken so Entzündungsprozessen an den Blutgefäßen des Gehirns entgegen. Zudem dämpft diese Wirkstoffklasse die erhöhte Nervenaktivität und normalisiert die Sauerstoffversorgung des Gehirns. „Rund 60000 Triptan-Einzeldosen werden jeden Tag in Deutschland eingenommen“, sagt Göbel. Doch wie bei vielen Schmerzmitteln besteht auch hier die Gefahr, dass sich der Körper an die Substanz gewöhnt. „Deshalb ist es essentiell, dass auch hier die 10-20-Regel beachtet wird“, so Göbel. Sie besagt, das Triptane und andere Akutmedikamente gegen Migräne zusammen an weniger als zehn Anfallstagen im Monat eingenommen werden dürfen. Sonst droht langfristig ein sogenannter Medikamentenübergebrauch- Kopfschmerz.

Medikamente können helfen

Doch einige Menschen sind so häufig von Migräneattacken betroffen, dass ein ausgeglichener Lebensstil und akute Schmerztherapie allein nicht genügen. „Bei Patienten, die an mehr als sieben Tagen im Monat unter einer Migräne leiden, kann eine medikamentöse Prophylaxe erwogen werden“, sagt Göbel. Bislang kamen dazu ausschließlich Wirkstoffe zum Einsatz, die nicht eigens für die Migränebehandlung entwickelt wurden. Etwa Betablocker, die eigentlich zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen verschrieben werden, Antiepileptika zur Behandlung von Epilepsien oder Antidepressiva. Diese Medikamente sind zwar wirksam, bergen jedoch eine Vielzahl möglicher Nebenwirkungen: Gewichtszunahme, Stimmungswandel, Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Benommenheit. Viele Patienten brechen solche Therapien daher ab. Studien zufolge nahmen nach zwölf Monaten nur noch 30 Prozent der Patienten die Medikamente ein.
Einen neuen Behandlungsansatz verfolgt eine spezielle Immuntherapie mit Antikörpern. Diese Antikörper blockieren ein Eiweiß, das Mediziner Calcitonin Gene-Related Peptide nennen, kurz CGRP. Dieses Protein steuert Entzündungsprozesse und soll eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Migräneanfällen spielen. Die Wirkstoffe Erenumab (Markenname „Aimovig“), Galcanezumab („Emgality“), Fremanezumab („Ajovy“) und Eptinezumab („Alder“) sind die ersten Arzneien, die erstmals speziell für die Migräneprophylaxe entwickelt und zugelassen wurden
Laut Zulassungsstudie konnte beispielsweise Erenumab je nach Dosierung die Zahl der Migränetage um 3,2 bis 3,7 Tage verringern. In der Placebogruppe fiel der Rückgang mit 1,8 Tagen signifikant geringer aus. Allerdings trat nur bei rund 30 Prozent der Probanden, für die die bisherigen vorbeugenden Medikamente nicht hilfreich waren, überhaupt eine Wirkung ein. Ein besonderer Vorteil sei die gute Verträglichkeit. „Akute Nebenwirkungen treten so gut wie keine auf“, sagt Hartmut Göbel. Nicht ausreichend erforscht sind bisher mögliche Langzeitwirkungen.
Vielen Betroffenen würde vor allem eines schon helfen: Wenn Mitmenschen die Migräne nicht als Ausrede sähen, sondern als Krankheit anerkennen würden. Und noch ein Tipp zum Schluss: Kommentaren wie „Du siehst gar nicht krank aus“, „Geh doch mal an die frische Luft, dass wirkt Wunder gegen Kopfschmerzen“ oder „Migräne ist psychisch bedingt, dein Körper will dir etwas sagen“ braucht wirklich kein Mensch. Und nein, Migränepatienten sind keine Gefahr für den Verkehr. Niemand muss Angst vor herabstürzenden Flugzeugen haben, denn Migräne kündigt sich an und leidlich erfahrene Betroffene können, die Signale ihres Körpers oft sehr gut deuten.

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