Lücke am Oberrang: Schließt das Olympiastadion!
Beim Derby zwischen Hertha BSC und dem 1. FC Union wird man’s wieder erleben: Es zieht durch die Lücke in der Arena. Sie beruht auf missverstandenem Denkmalschutz – erinnert an Nazis und killt die Atmosphäre.
In Berlin, das weiß jeder Radfahrer, bläst der Wind immer von vorne. Berlin ist eine Stadt ohne natürlichen Rückenwind. Dafür zieht es gerne von allen Seiten. Wie Hechtsuppe. Warum es aber wie Hechtsuppe zieht, ist ein sprichwörtliches Rätsel, nicht nur in Berlin. Obwohl die Wendung mit der Hechtsuppe entweder aus dem Jiddischen oder aus dem Berlinischen, wenn nicht gar aus dem Jiddisch-Berlinischen stammen soll, nach Auskunft der Etymologen.
Jedenfalls zieht es – und am heftigsten im Berliner Olympiastadion. Eine Hauptursache ist hier allerdings klar. Es zieht von Westen, weil von allen Berliner Winden der Westwind, trotz unserer wintergrauen Ostlage, am häufigsten weht. Und das Olympiastadion hat anders als alle anderen vergleichbaren Sportarenen in der Westkurve eine Lücke. Durch sie bläst es in diesen Tagen eisig – das werden die Fans des kommenden Zweitligaderbys zwischen Hertha BSC und 1. FC Union am Montagabend wieder am eigenen Leibe spüren. So viel Schnäpse und Tore, das Zugige zu verdrängen, werden da schwerlich fließen und fallen.
Die Lücke, um die’s hier geht, hat freilich nichts mit der üblichen oder aktuellen Unvollkommenheit Berliner Großbauten zu tun. Das Olympiastadion wurde mit seinem markanten Sprung in der Betonschüssel schon 1936 zu den Olympischen Sommerspielen präsentiert. Mit einer pathetischen Öffnung des Oberrangs in Richtung Glockenturm und zu der – nach dem Krieg wiederaufgebauten – sogenannten Langemarckhalle. Zugleich sollte die inszenierte Baulücke das Auge auf die damit freigestellte Empore für das Olympische Feuer lenken.
Nun brennt freilich seit 77 Jahren dort kein Feuer mehr. Es ist vielmehr eine zugig kahle, kalte Leerstelle: ein absoluter Stimmungstöter, mögen sich die Herthafans in der gegenüberliegende Ostkurve auch die Seele aus der Kehle schreien. Sie schreien allemal auch in diese Leere, es kommt kein Echo von der halb nackten anderen Seite – kein Wunder, dass sich Auswärtsmannschaften im Olympiastadion oft genug eher leicht tun. Ohnehin ist das weite Oval mit der Leichtathletikbahn keine geballte, atmosphärestarke Fußball- arena, die Berlin idealerweise bräuchte.
Immerhin hat es zur WM 2006 eine kräftige Modernisierung gegeben. Vor allem mit einem schönen Dach. Doch auch das unterbricht seinen kühnen Schwung und lässt im Westrund eine Lücke klaffen. So hat man die von den Nationalsozialisten 1936 quasi sakral-bombastisch herausgestellte Feuerempore nicht angetastet. Eine Absurdität des ansonsten (beim Dach) ja ganz flexibel gehandhabten Denkmalschutzes. Zumal die so bewahrte Sichtachse hin zur Langemarckhalle buchstäblich himmelschreiend wirkt: weil die Nazis dort das Andenken an die jungen Gefallenen des Ersten Weltkriegs als Blutopferkult und Vorbereitung auf ihre kommenden Schlachten martialisch in Szene setzten.
Die Antwort von heute kann angesichts dieser offenkundigen Misere nur lauten: Schließt das Olympiastadion – indem die für alle Besucher und Spieler unsinnige, unwirtliche Leerstelle endlich gefüllt wird! Natürlich ist für eine große Lösung, für die Vollendung des Daches rundum, jetzt erst mal kein Geld da. Trotzdem sollte als Nächstes ein Kostenvoranschlag her. Und wenn die Lücke im Oberrang nicht gleich geschlossen werden kann, dann ließe sich das optische Manko zumindest mit einer Anzeigetafel samt nach hinten abschließender Folienkonstruktion beheben: nach bester Berliner Tradition, wie bei den seit Jahren augentäuschenden Kunst-Fassaden am Leipziger Platz oder an der ehemaligen Schinkelschen Bauakademie.
Unter der Olympischen Feuerschale gibt es ohnehin jene leer gähnenden Betonstufen, die früher (auch während der Spiele 1936) schon als Zuschauerreihen genutzt wurden. Die Kosten für neue Installationen kämen durch mehr Tickets spätestens nach Herthas Aufstieg wieder rein. Oder verlangt der DFB auch in diesem Ausnahmefall ein Dach über jedem Kopf? Nein, bei vollem Haus wäre das Stadion dann wirklich fast voll, die Westkurve sähe nicht mehr aus wie ein Gebiss mit fehlenden Vorderzähnen. Und der zweite Wind im Spiel käme nicht nur von draußen.
Seit 77 Jahren brennt hier kein olympisches Feuer, es gähnt nur eine graue Leere. Die könnte man füllen.