E.T.A. Hoffmann in Berlin: Schicksal eines abenteuerlichen Mannes
E.T.A. Hoffmann war Bürger, Künstler, Nachtgestalt. In seinen Werken überhöhte er Berlin ins Fantastische – und beschrieb doch präzise. Viel findet sich noch heute.
Ein alter Mann, schwer besoffen vor sich hin brabbelnd, umgeben von einem Meer geleerter Flaschen. Ehe er endlich im Sarg verschwindet, ziehen frühere Liebschaften an seinem inneren Auge vorbei. Eine mechanische Puppe, eine todkranke Sängerin und eine teuflischen Kurtisane hat er begehrt, sich in Wahrheit aber sein Leben lang nur nach einer Frau gesehnt, der Donna Anna aus Mozarts Oper „Don Giovanni“.
So ist der romantische Dichter Ernst Theodor Amadeus Hoffmann derzeit in der Komischen Oper zu besichtigen, in Barrie Koskys aktueller Inszenierung von „Hoffmanns Erzählungen“. Der Hauptschauplatz von Jacques Offenbachs Oper liegt nur zwei Straßenecken weiter. An der Französischen, Ecke Charlottenstraße befand sich seit 1811 das Weinlokal von Lutter & Wegner. Wer es weiß, kann heute am Sockelgeschoss eines Hotelneubaus eine unauffällige Gedenktafel mit eingemeißelter Inschrift entdecken, die an die Geschichte des Ortes erinnert.
Um 1820 war E.T.A. Hoffmann Stammkunde bei Lutter & Wegner – und eine Sehenswürdigkeit. Der bekannte Schriftsteller, angesehene Komponist und respektierte Kammergerichtsrat galt als Original, das Nachtschwärmer und Touristen in die Weinstube lockte. Erwischten sie einen guten Abend, wurden sie zu Ohrenzeugen, wie Hoffmann stundenlang fabulierte und sich funkensprühende Wortgefechte mit seinem liebsten Saufkumpan, dem Schauspieler Ludwig Devrient, lieferte.
Hoffmann ist zum Mythos des Berliner Nachtlebens geworden
Die Berichte von diesen Gelagen inspirierten die Franzosen Jules Barbier und Michel Carré zu einem Theaterstück mit Hoffmann als Hauptfigur, auf der wiederum das Libretto von Offenbachs Oper basiert. 1881 in Paris uraufgeführt, machten „Hoffmanns Erzählungen“ den Dichter zu einer weltweit bekannten Opernfigur und den Weinkeller von Lutter & Wegner endgültig zu einem Mythos des Berliner Nachtlebens. Zudem hält eine Sektmarke aus dem Supermarkt die Erinnerung an die Zechbrüder Hoffmann und Devrient wach: Auf den Etiketten prosten sich beide zu – vorerst bis in alle Ewigkeit.
Ein heiliger Trinker und furioser Erzähler, magisch angezogen vom Unheimlichen und Übernatürlichen – so, als „Gespenster-Hoffmann“, ist der kleine, hagere Kammergerichtsrat in die Literatur- und Operngeschichte eingegangen. „Der Teufel kann so teuflisches Zeug nicht schreiben“, schwärmte der Student Heinrich Heine, der Hoffmann 1821 im „Café Royal“ Unter den Linden beobachtete und nicht anzusprechen wagte. Heine entging nicht, dass der Erzähler Hoffmann ein Romantiker von ganz besonderem Schlag war. Von Autoren wie Novalis, die das Heil im Katholizismus, im verklärten Mittelalter oder der „blauen Blume“ suchten, unterschied ihn für Heine, dass er „mit allen seinen bizarren Fratzen sich doch immer an der irdischen Realität festklammert“.
Dokumentiert ist neben dem Suff auch die hellwache Seite von Hoffmanns schillernder Persönlichkeit, seine überscharfe Beobachtungsgabe, die er im gesellschaftlichen Verkehr und auf stundenlangen Spaziergängen schulte. In der 1817 erschienenen Erzählung „Das öde Haus“ schildert er, der 1798 erstmals 22-jährig aus seiner Heimat Königsberg in die Stadt kam, seine Berlin-Faszination so: „Die Menge alter Freunde und Bekannten, die ich vorfand, das freie gemütliche Leben, die mannigfachen Anregungen der Kunst und der Wissenschaft, das alles hielt mich fest. Nie war ich heitrer, und meiner alten Neigung, oft allein durch die Straßen zu wandeln und mich an jedem ausgehängten Kupferstich, an jedem Anschlagzettel zu ergötzen oder die mir begegnenden Gestalten zu betrachten, ja wohl manchem in Gedanken das Horoskop zu stellen, hing ich hier mit Leidenschaft nach, da nicht allein der Reichtum der ausgestellten Werke der Kunst und des Luxus, sondern der Anblick der vielen herrlichen Prachtgebäude unwiderstehlich mich dazu antrieb. Die mit Gebäuden jener Art eingeschlossene Allee, welche nach dem Brandenburger Tore führt, ist der Sammelplatz des höheren, durch Stand oder Reichtum zum üppigeren Lebensgenuss berechtigten Publikums. In dem Erdgeschoss der hohen breiten Paläste werden meistenteils Waren des Luxus feilgeboten, indes in den obern Stockwerken Leute der beschriebenen Klasse hausen. Die vornehmsten Gasthäuser liegen in dieser Straße, die fremden Gesandten wohnen meistens darin, und so könnt ihr denken, dass hier ein besonderes Leben und Regen, mehr als in irgendeinem andern Teile der Residenz, stattfinden muss.“
"Das lebendige Leben der großen Stadt wirkt wunderbar auf das Gemüt"
Die Fantasie des Flaneurs Unter den Linden entzündet sich schließlich an einem abrissreifen Haus, das aus der prachtvolle Szenerie herausfällt – dort, wo heute die Russische Botschaft steht. Er wittert ein Geheimnis hinter der Fassade. Seine Neugier steigert sich in Wahnhafte. Derart befeuerte das erlebte Berlin E.T.A. Hoffmanns literarisches Werk nicht nur in „Das öde Haus“. In vielen seiner Erzählungen gehen fantastische Gestalten um, geschehen unerklärliche Dinge. Doch dies alles passiert in einer Stadt, die für die Zeitgenossen zweifelsfrei als der Schauplatz ihres Alltags identifizierbar war. Bevölkert wird die präzise Topografie von messerscharfen Karikaturen spießiger Beamter und Kaufleute, von Bohemiens und Kunstliebhaberinnen der lokalen Szene, von Sonderlingen, wie sie einem vor zweihundert Jahren in den Straßen, Restaurants oder Salons der preußischen Hauptstadt eben über den Weg liefen. So etwa die Figur des Fremden in der Fragment gebliebenen Erzählung „Neueste Schicksale eines abenteuerlichen Mannes“, der „sehr klein und dabei beinahe magerer als mager“ im Hôtel de Brandenbourg einkehrt – Hoffmanns Logis im Sommer 1807.
„Das lebendige Leben der großen Stadt, der Residenz wirkt nun doch einmal wunderbar auf das Gemüt“, heißt es 1820 in einem Brief Hoffmanns. Berlin war damals schon eine richtige Großstadt mit mehr als 170 000 Einwohnern. Es gab kein fließendes Wasser, keine Kanalisation, keinen elektrischen Strom, aber nachts wurde die Stadt bis in den hintersten Winkel durch Laternen beleuchtet, die von 60 Invaliden gewartet wurden. Das 1806 erschienene „Lexicon von Berlin“ des Buchhändlers Johann Christian Gädicke verzeichnet 7315 Häuser und 31 Kirchen, 135 Straßen und 91 Gassen, 18 öffentliche Plätze und Märkte. Rund 250 Bäckermeister versorgten die Bevölkerung mit Brot, für gehobene Ansprüche gab es 36 Konditoren und Zuckerbäcker. Etwa 700 Kaffeehäuser, Kneipen und Weinstuben warteten auf Gäste. Nachtschwärmern und Vergnügungssüchtigen bot die Stadt reichlich Abwechslung.
Berlin war weiträumig von einer vier Meter hohen Palisadenmauer umgeben. Diese Zollmauer war etwa 15 Kilometer lang, zu Fuß in etwa vier Stunden zu umrunden. Es gab 15 Stadttore, an die heute noch die Namen mancher U-Bahn-Stationen erinnern. Als einziges steht noch das Brandenburger Tor. Hoffmann passierte es häufig, dem Menschenstrom zu den „Zelten“ folgend, Ausflugslokalen im Tiergarten: „Der Spätherbst in Berlin hat gewöhnlich noch einige schöne Tage. Die Sonne tritt freundlich aus dem Gewölk hervor, und schnell verdampft die Nässe in der lauen Luft, welche durch die Straßen weht. Dann sieht man eine lange Reihe, buntgemischt – Elegants, Bürger mit der Hausfrau und den lieben Kleinen in Sonntagskleidern, Geistliche, Jüdinnen, Referendare, Freudenmädchen, Professoren, Putzmacherinnen, Tänzer, Offiziere u.s.w. durch die Linden, nach dem Thiergarten ziehen.“
Seine "Lieblingsneigung" ist die Menschenbeobachtung
Mit diesen Sätzen trat der Erzähler E.T.A. Hoffmann 1809 überhaupt zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Eine stimmungsvolle Berlin-Beschreibung steht gleich am Anfang der ersten gedruckten Erzählung „Ritter Gluck“, die Hoffmann als Kenner, Liebhaber und Kritiker des Berliner Musiklebens ausweist. Im „Weberschen Zelt“ im Tiergarten, in der Gegend des heutigen Hauses der Kulturen der Welt, peinigt eine Kapelle die feinen Ohren des Erzählers. Er kommt mit einem Sonderling ins Gespräch, der gleichfalls unter der ständigen Musikberieselung in den Vergnügungsstätten Berlins leidet. Der Mann entpuppt sich als genialer Wiedergänger des Komponisten Christoph Willibald Gluck. Zum Zeitpunkt der fiktiven Begegnung war Gluck allerdings schon 22 Jahre tot. Raffiniert lässt Hoffmann in der Schwebe, inwieweit es sich bei der Gestalt um ein Gespenst oder um einen wahnsinnigen Musiker handelt.
Von der Großstadtatmosphäre und dem reichen Kulturangebot Berlins schwärmt er bereits im ersten langen Brief, den er im Oktober 1798 aus der preußischen Hauptstadt an einen Freund schickt: „Ist es irgend möglich zu machen, so bleibe ich hier in Berlin!“ Hoffmann stammte aus einer Juristenfamilie, nach einem Jurastudium in Königsberg ließ er sich zu Verwandten nach Berlin versetzen, wo er seine Ausbildung zum Staatsdiener als Referendar am Kammergericht in der Lindenstraße – heute Jüdisches Museum – fortsetzte.
Neben der Aktenfresserei besuchte der junge Mann die Kunstausstellung in der Akademie der Künste, die Oper und das Nationaltheater auf dem Gendarmenmarkt, knüpfte rasch Kontakte zu Theaterleuten und Musikern. Er nahm Kompositionsunterricht und schickte so mutig wie erfolglos ein selbst verfasstes Opernlibretto an die Königin Luise und August Wilhelm Iffland, den Intendanten des Nationaltheaters.
Ein Job in Berlin? Hoffmann ist im "Freudentaumel"
Im März 1800 wurde Hoffmann in die polnische Provinz versetzt, er musste seine Laufbahn als Jurist in Posen fortsetzen. 1807/08 kehrte er zurück, drohte aber im von Napoleons Truppen besetzten Berlin zu verhungern. Bis 1814 schlug er sich darum als Kapellmeister und Mädchen für alles an Theatern in Bamberg, Dresden und Leipzig durch. Als sich dann endlich die Möglichkeit für eine neuerliche Verbeamtung am Berliner Kammergericht eröffnete, lebte Hoffmann „in der Tat wie in einem Freudentaumel“.
Neben der Aussicht auf eine Festanstellung am Kammergericht berauschte ihn die Hoffnung, seine Märchenoper „Undine“ im Nationaltheater auf dem Gendarmenmarkt aufgeführt zu sehen. Seit 1802 stand dort ein gewaltiger Kulturpalast für 2000 Theaterzuschauer, außerdem waren ein Konzertsaal für 1000 Personen, Werkstätten, Büros und Depots in dem Bau des Architekten Carl Gotthard Langhans untergebracht. Das Nationaltheater mit Riesenbühne und Orchester war unter dem Intendanten Iffland zu einem führenden Theater im deutschsprachigen Raum aufgestiegen. Nun setzte sein Nachfolger Carl Moritz Reichsgraf von Brühl eigene Akzente: Er ließ die von Hoffmann komponierte Oper auf dessen Wunsch von Karl Friedrich Schinkel aufwendigst mit Dekorationen ausstatten. Die Musik Hoffmanns, der sich an Mozart und Beethoven orientierte, klang für damalige Ohren durchaus avantgardistisch. Die als Gesamtkunstwerk angelegte Inszenierung war 1816 ein großer Publikumserfolg und beeindruckte insbesondere Carl Maria von Weber, der mit Hoffmann befreundet war.
Dass im Rückblick nicht Hoffmanns „Undine“, sondern Webers fünf Jahre später aufgeführter „Freischütz“ als erste große romantische Oper im Gedächtnis geblieben ist, geht auch auf eine Brandkatastrophe zurück, die sich am 29. Juli 1817 am Gendarmenmarkt ereignete. Hoffmann erlebte das Unglück in seiner Wohnung an der Taubenstraße, Ecke Charlottenstraße: „Ich saß gerade am Schreibtisch, als meine Frau aus dem Eckkabinett etwas erblasst eintrat und sagte: Mein Gott, das Theater brennt. – Weder sie noch ich verloren indessen nur eine Sekunde den Kopf. Als Feuerarbeiter, zu denen sich Freunde gesellt hatten, an meine Türe schlugen, hatten wir mit Hilfe der Köchin schon Gardinen, Betten und die mehrsten Möbel in die hinteren, der Gefahr weniger ausgesetzten Zimmer getragen, wo sie stehen blieben, da ich nur im letzten Moment alles heraustragen lassen wollte. In den vorderen Zimmern sprangen nachher sämtliche Fensterscheiben und die Ölfarbe tröpfelte von der Hitze herab. Nur beständiges Gießen bewirkte, dass das Holzwerk nicht vom Feuer anging. – Meinen Nachbarn, die zu eilig forttragen ließen, wurde vieles verdorben und gestohlen, mir gar nichts.“ Mit dem Theaterbau von Langhans verbrannten die Dekorationen und Kostüme der beliebten „Undine“-Inszenierung, zu einer Wiederaufführung kam es nicht mehr.
"Ein pflichtvergessener, von Leichtsinn, Eitelkeit, Schreib- und Gewinnsucht getriebener Beamter"
In den folgenden vier Jahren schaute Hoffmann von seinem Schreibtisch an der Charlottenstraße zunächst auf die Brandruine, dann auf die Baustelle des Schinkel’schen Schauspielhauses auf dem Gendarmenmarkt. „Kolossal und genial gedacht“ nennt er den Musentempel in „Des Vetters Eckfenster“, einer seiner letzten Erzählungen. Hoffmann schrieb sie 1822 für eine neue Berliner Zeitschrift mit dem programmatischen Titel „Der Zuschauer“. „Des Vetters Eckfenster“ handelt von seiner „Lieblingsneigung“, dem Beobachten von Menschen in der Stadt. Ein gelähmter Schriftsteller führt seinen Besucher in die Kunst des genauen Hinsehens ein. Mit den Augen flanieren die beiden durch das Treiben unterhalb eines Fensters am Gendarmenmarkt, analysieren das Auftreten der Marktbesucher und denken sich Geschichten zu dem aus, was sie sehen.
Wie die Figur des Vetters fesselte eine fortschreitende Rückenmarkslähmung den Autor Hoffmann an seine Wohnung. Erst konnte er die Füße nicht mehr bewegen, als auch die Arme versagten, diktierte er seine letzten Texte seinem Pflegepersonal. Zusätzlich verdüstert wurde diese Leidenszeit durch ein schwebendes Disziplinarverfahren gegen Hoffmann. Der preußische Innenminister Schuckmann und der preußische Polizeichef Karl Albert von Kamptz hatten es gegen den Kammergerichtsrat eingeleitet. Der scharfsichtige Jurist hatte sich im Innenministerium total verhasst gemacht, weil er als Richter wiederholt für die Freilassung von Oppositionellen plädierte, die Kamptz allein wegen ihrer staatskritischen Gesinnung hinter Schloss und Riegel sehen wollte.
Über diese Praxis der staatlichen Rechtsbeugung hatte sich Hoffmann zudem in seinem letzten Roman „Meister Floh“ lustig gemacht und Kamptz als „Knarrpanti“ verspottet. Daraufhin forderte der Innenminister den König Friedrich Wilhelm III. auf, Hoffmann in ein Provinznest zu versetzen. Dieser höchst pflichtvergessene, von Leichtsinn, Eitelkeit, Schreib- und Gewinnsucht getriebene Beamte müsse schleunigst aus der Hauptstadt verschwinden!
Ehe es dazu kam, starb Hoffmann am 25. Juni 1822 in seiner Wohnung. Er wurde nur 46 Jahre alt. Der ungesunde Lebenswandel forderte seinen Tribut. Doch trotz körperlichen Verfalls blieb Hoffmann wach im Kopf und diktierte bis zuletzt an seinem literarischen Werk. Seiner Witwe hinterließ er nichts als Schulden – der Stadt Berlin aber das Entreebillett in die Weltliteratur.
Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin. Er ist ein Vorabdruck aus dem neuen Buch des langjährigen Tagesspiegel-Autors und Berlinologen Michael Bienert. „E.T.A. Hoffmanns Berlin. Literarische Schauplätze“ erscheint im vbb – Verlag für Berlin- Brandenburg (176 Seiten, 200 Abbildungen, 24,99 Euro). Der Autor stellt das Buch am 3. Dezember um 20 Uhr in der Dorotheenstädtischen Buchhandlung in Moabit vor und am 17. Dezember um 15.30 Uhr in der Urania. Michael Bienert bietet zudem drei literarische E.T.A.-Hoffmann-Stadtspaziergänge an, immer sonntags um 10 Uhr: am 13. Dezember 2015, 24. Januar 2016 und am 14. Februar 2016. Informationen und Anmeldung auf der Autorenwebsite www.text-der-stadt.de.