zum Hauptinhalt
Die Zernikower Maulbeerallee mit rund 70 Maulbeerbäumen erinnert an die Zeit des preußischen Seidenbaus.
©  Clemens Franke

Brandenburg neu entdecken: Schattige Baumgänge auf dem Gut Zernikow

Fünf Alleen, jahrhundertealte Maulbeerbäume. Das Gut Zernikow bei Rheinsberg lädt zu literarischen Wanderungen durch eine einzigartige Kulturlandschaft.

Wer ist die schönste im ganzen Land? Natürlich die Maulbeerallee. Von den sieben Alleen, die Michael Gabriel Fredersdorff und Caroline von Labes vor gut 250 Jahren auf ihrem Gut Zernikow anlegen ließen, ist sie diejenige, die die größte Bewunderung erregt. Rund 70 Maulbeerbäume, teilweise noch Original–Exemplare aus dem 18. Jahrhundert, säumen die schmale Straße, die von der Gutsanlage zur Mühle Zernikow führt.

Knorrig und charakterstark stehen die alten Bäume da, windschief und teilweise mit Balken gestützt, dazwischen jüngere, nachgepflanzte Schönheiten: eine der ganz wenigen Maulbeeralleen, die heute noch an die Zeit erinnern, als Preußen sich von Seidenimporten unabhängig machen wollte. Gutsherr Fredersdorff und seine spätere Witwe Caroline von Labes hatten eine Plantage von angeblich 8000 Bäumen, deren Blätter als Futter für Seidenraupen dienten. Aus deren Kokons gewann man in aufwendiger Handarbeit Seidenfäden – eine Unternehmung, die nach einigen Jahrzehnten mangels Wirtschaftlichkeit eingestellt wurde.

Die Lindenallee, ein Traum in grün

Oder ist nicht die Lindenallee viel schöner? Man betritt sie wie einen Traum in Grün. Hört die eigenen Schritte nicht auf dem weichen Untergrund, blickt zu den turmhohen Stämmen auf, ist umfangen von einem nicht enden wollenden Blättermeer. Jede der sieben Alleen, die auf Gut Zernikow zuführen, hat ihren ganz eigenen Reiz, ob Weißbuchen- oder Rotbuchen-, Kastanien- oder Pappelallee.

„Dieses Netz von Alleen ist selbst im alleenreichsten Bundesland Brandenburg etwas ganz Besonderes“, sagt Matthias Gebauer, Fachbereichsleiter der Schlossgärten Rheinsberg und Schönhausen über die Gutslandschaft Zernikow, gelegen etwa 14 Kilometer östlich von Rheinsberg.

Arkadische Gutslandschaft

Gebauer ist Vorstandsmitglied der „Initiative Zernikow“, die sich für die Bewahrung des Kultur- und Naturdenkmals einsetzt. Eine „künstlerisch verfeinerte, arkadische Gutslandschaft“ habe Michael Gabriel Fredersdorff geschaffen, nachdem er das Gut 1740 als Geschenk von Friedrich II erhalten hatte: mit Gärten, Laubengängen, Hecken, Solitärbäumen, Baumgruppen und eben jenen sieben Alleen.

Sie sind im Laufe der Jahrhunderte teilweise verwildert, andere Baumsorten wurden dazwischengepflanzt oder pflanzten sich selbst, und viele Buchen der Buchenallee haben ihre maximale Lebenszeit erreicht. Makellose Schönheiten sind sie also nicht. Aber sie bieten Raum für Inspiration, und in diesem Sommer sollen sie wispern, erklingen und erröten: Fünf der Alleen werden Schauplatz einer Veranstaltungsreihe mit Lesungen, Konzerten und Performances sein.

Die Künstlerin Elli Graetz aus dem nahen Dagow wird die Bäume mit Stoffbahnen verwandeln und Wörter in den Wind hängen, während Schauspieler und Musiker darunter auftreten. Die Reihe „Fünf Alleen“ wird im Rahmen des Projekts „Und seitab liegt die Stadt“ der Bundeskulturbeauftragten und des Literarischen Colloquiums Berlin gefördert, das in diesem Jahr das Thema „Landschaft“ trägt.

Natur und Kultur verweben

„Wir möchten diese einzigartige Verbindung von Natur und Kulturlandschaft erlebbar machen“, sagt Gerlind Groß, Vorstandsvorsitzende der Initiative Zernikow. Sie organisiert seit vielen Jahren hier Kulturveranstaltungen und hat das Konzept der „Fünf Alleen“ zusammen mit der Berliner Hörspielmacherin Ruth Johanna Benrath entwickelt. Vor 26 Jahren hat sich die studierte Landwirtin, Sozialtherapeutin und Pferdewirtschaftsmeisterin in die Gegend verliebt und führt heute eine Pferdepension und Ferienwohnungen hinter dem Gutsgelände.

Geschichte und Gegenwart, Natur und Kultur verweben: Das gelingt in Zernikow besonders gut. Wenn etwa an diesem Sonntag der Schauspieler Paul Sonderegger in der Kastanienallee aus Achim von Arnims Roman „Hollin's Liebeleben“ liest, begleitet von einem Vokalquartett um den Pianisten Scott Curry, dann ist das eine Hommage an den Ort. Denn der romantische Dichter verbrachte die Sommer seiner Kindheit und Jugend hier auf dem Gut seiner Großmutter Caroline.

Sie hatte nach dem Tod Fredersdorffs in zweiter Ehe den Freiherrn von Labes geheiratet, und Enkel Achim verfasste sein Erstlingswerk in Zernikow. In einem Brief lobt er, fern vom „staubigten Berlin“, die Alleen: „Sobald man auf der Grentze kömt, empfangen schattige Baumgänge den ermüdeten Wanderer.“ Auch der Briefwechsel mit seiner späteren Frau Bettina wird in einem solchen „schattigen Baumgang“ vorgelesen.

Französischer Duft

An die Zeit der Caroline von Labes erinnert die barocke Kirche und das „Fredersdorffsche Erbbegräbnis“ im Örtchen. Zernikow war wie die Güter Bärwalde und Wiepersdorf bis 1945 im Besitz der Nachkommen Achim und Bettina von Arnims. Der letzte Besitzer, Friedmund von Arnim, starb in sowjetischer Gefangenschaft, seine Frau Clara von Arnim schildert in ihrer Autobiografie „Der grüne Baum des Lebens“ (1998) das Leben als Gutsherrin in den 30er und 40er Jahren und die Flucht vor der Roten Armee. Ihr Sohn Achim war 1992 Mitbegründer der Initiative Zernikow.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Die weitläufige Gutsanlage mit Herrenhaus, ehemaligem Schaf- und Rinderstall, Inspektorenhaus, Schmiede und Brennerei ist heute Eigentum der kommunalen Strukturentwicklungsgesellschaft Aqua Zehdenick. Neuerdings weht ein französischer Duft über den Hof: Im und vor dem ehemaligen Schafstall hat im vorigen Jahr, originell möbliert, die „Crêperie Bric-à-Brac“ eröffnet.

Dort bewirten Aurore und Jan Koch Ausflügler und Einheimische mit Crêpes, Galettes und selbst gebackenen Tartes. Jan Koch, Musiker und Liedermacher, wird selbst eine der „Fünf Alleen“-Veranstaltungen gestalten. Die Gäste der Ferienwohnungen, die er auf dem Gut vermietet, können ihren Wirt dann spielend und singend erleben.

Quicklebendige Seidenraupen

Dass die Maulbeerblätter den Seidenraupen auch heute noch schmecken, davon können sich Besucher:innen im Herrenhaus überzeugen, wenn sie die Ausstellung zur Geschichte des Seidenbaus (am Wochenende geöffnet) besuchen. Da krabbeln die gräulichen Würmer in Kisten herum, vertilgen im Rekordtempo die eigens in der Allee gesammelten Blätter, robben auf hölzerne Stäbe und spinnen sich dort ein. Dabei entstehen die feinen weißen Fäden, aus denen einst teure Tücher und Bänder hergestellt wurden.

Auch beim jährlichen Maulbeerfest auf dem Gutshof werden die Vielfraße vorgeführt. In diesem Jahr findet das Fest am 7. August coronabedingt nur als Tag der offenen Tür statt, verbunden mit einer szenischen Lesung des Berliner Schauspielerduos „Kirschendieb und Perlentaucher“ aus Alessandro Barricos Roman „Seide“. Wo? Natürlich in der Maulbeerallee.

Informationen zur Veranstaltungsreihe „Fünf Alleen“ und zur Seidenbau-Ausstellung hier. Das Gut ist mit dem Auto oder von den Bahnhöfen Gransee und Dannenwalde aus mit Fahrrad oder Rufbus zu erreichen. Die Autorin dieses Artikels liest am 19. September aus dem Briefwechsel zwischen Bettina und Achim von Arnim. Mehr Ausflugstipps in unserem Tagesspiegel-Magazin „Brandenburg 2021“, für 9,80 Euro am Kiosk oder online im Tagesspiegel-Shop.

Zur Startseite