Fraktur! Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit: Saufen und huren im norddeutschen Babel
Offiziell ist die Prostitution im kaiserlichen Berlin verboten. Doch das Sexgeschäft floriert - in den Separees von Animierkneipen wie in bürgerlichen Salons.
Wir treten ein in die „High Life Bar“ und sind mitten im lustbaren Berlin des Jahres 1904. Sechs Damen sind drei Herren zu Diensten – im Likörausschank „in erfrischenden Quantitäten“ und zur Anregung ihrer natürlichen Lebensfreude. „Parfümierte Herrscherinnen der Nacht üben hier ihr Amt und brüsten sich in urewigem Eva-Entzücken der Zielpunkt männlicher Wünsche zu sein“, schwülstet das „Berliner Leben“, die „Zeitschrift für Schönheit und Kunst“, zu diesem Bild. „Mit berechneter Grazie lächelt der karmoisinrote Mund und schlürft durch das fahle Rohr die Grenadine, der Erquickungstrunk. Auf grotesken Sesseln sitzen die Herren, in trivial lüsternen Melodien blitzen die neuesten Metropol-Schlager auf. Halbe Lüste flammen auf und erlöschen wieder. Die Mädchen tragen welkende Puppengesichter, Blumen im Haar.“
Fahl und trivial, halbe Lüste, welkende Gesichter – der Autor dämpft die Lust auf einen Besuch der High Life Bar, das Foto verströmt wenig Erotik, verschämt wenden sich die drei Herren in Hut und Mantel vom Betrachter ab. „Man ist ein wenig krampfhaft bemüht, epikuräisch zu sein, die rotleuchtendste Nuance zu finden“, bemerkt auch der Redakteur.
Es sind die Hinterzimmer solcher „Animierkneipen“, in denen die Damen „kokettieren und stimulieren“ und damit ihr Trinkgeld verdienen, wie Paul Born 1893 in seinem Buch „Berlins dunkle Existenzen“ berichtet.
In der anschwellenden Reichshauptstadt schießt eine Unzahl von Etablissements dieser Art aus dem Boden, es sind „die Seuchenherde des Berliner Restaurationsbetriebes“, schreibt Born im Kapitel „Unter den Berliner Kellnerinnen“. „Von hier aus wirkt nach allen Seiten hin der Ansteckungsstoff – der physische oft ebenso wie der sittliche.“
Frivole Darbietungen in heruntergekommenen Tanzsälen
Die Epidemie von Geilheit und Gier begründet eine Industrie, an der viele verdienen und viele verrecken. Der Suff, die Syphillis, infektiöse Abtreibungen in Hinterhofkellern, das sind Begleiterscheinungen des Lustgewerbes. Es treibt seine Blüten nicht nur in den Separees heruntergekommener Tanzlokale wie den Wegnerschen Stuben in der Französischen Straße, wo sich die Tänzerinnen bis auf seidene Schleier enthüllen und der Direktor zu den Geburtstagen der Kaiserlichen Familie frivole „Gedenkaufführungen“ veranstaltet. Auch Bürgerdamen nutzen ihre Wohnungen für den Verkehr solventer Herren mit jungen, oft minderjährigen Mädchen. Die steigende Nachfrage nach Personal für die Vergnügungsstätten befriedigen „Luden“ und „Verschickefrauen“. Sie können leichte Beute machen: Die Landflucht, die Armut und die immer loseren familiären Bindungen treiben den Vermittlern die jungen Mädchen scharenweise in die Arme. So fallen, lange bevor die männliche Jugend ihren Opfergang auf den Schlachtfeldern Europas antritt, unzählige junge Mädchen im „norddeutschen Babel“, so der Titel eines Buches über das Berliner Prostitutionsgeschäft aus dem Jahr 1870.
Zwar ist die Förderung der Prostitution im kaiserlichen Berlin offiziell verboten. Doch Polizei und Justiz unternehmen kaum Anstalten, die Unzucht zu bändigen. Im Gegenteil: Schutzmänner lassen sich von Zuhältern und Huren schmieren. Und Milljöh-Chronist Heinrich Zille berichtet von einer „Schlummermutter“, die mal wieder wegen „Stubenkuppelei“, also der Vermietung von Zimmern an Sexarbeiterinnen nach Moabit vorgeladen wurde und sich im Saal empörte: „Hoher Gerichtshof, ick will nich lange mäckern, aber es hat so mancher Assessor und Referendar bei meine Meechens gepennt. Wenn Sie aber den Trauermantel umhab’n, dann kenn se een markier'n, der die Gefühle verbietet.“ Für ihre freche Rede erhält die Matrone drei Tage Arrest. Von der Schließung ihres illegalen Geschäfts ist keine Rede.
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