Berlin: Sandra Pohl (Geb. 1993)
Sie spielte den Bass in einer Band, noch ohne Namen.
Ein blauer Taschenkalender. Eintrag 10. März 2008: „Noch 15 Tage. Dann ist mein Geburtstag.“ Eintrag 11. März: „Noch 14 Tage.“ 12. März: nichts.
Im wunderschönen Monat Mai, / Als alle Knospen sprangen, / Da ist in meinem Herzen / Die Liebe aufgegangen.“
Sandra steht auf der vorletzten Sprosse einer Leiter, die linke Hand um den oberen Griff geklammert, in der rechten ein gelbes Reclamheft, das Buch der Lieder, Heinrich Heine. Das dichte, kupfrige Haar fließt auf ihre Schultern, die dunklen grünen Augen blicken kindlich und ernst den langen Schulkorridor entlang, Schülern, Lehrern verkündet sie die Worte vom Frühling, von der Liebe.
„Ich bin mit der Klasse zu einem Liederabend gegangen“, erzählt die Deutschlehrerin, „von Schumann vertonte Heine-Gedichte. Am nächsten Tag fragte mich Sandra, ob sie die Gedichte nicht am Tag der offenen Tür vortragen könne. Zusammen entwickelten wir dann die Idee mit der Leiter.“
Im wunderschönen Monat Mai, / Als alle Vögel sangen, / Da hab ich ihr gestanden / Mein Sehnen und Verlangen.
Der März 2008 ist kalt. Die BVG streikt. Soll in diesen Tagen die Schule stattfinden oder nicht?, so heißt das Aufsatzthema vom 11. März. Sandra denkt nach. „Man könnte mit dem Fahrrad zur Schule kommen“, schreibt sie. „Dies wäre gesund, da es zusätzlicher Sport ist. Im günstigsten Fall sind Schüler sogar besser ausgelastet und im Unterricht ruhiger.“ Sie hält inne. Stellt sich die unzähligen zusätzlichen Autos vor. Schreibt weiter. „Die müden Kinder dann auf den verstärkten Straßenverkehr loszulassen, wäre viel zu gefährlich.“
Seit wenigen Monaten geht Sandra auf die Georg-von-Giesche-Schule in Schöneberg. Alle spüren, dieses Mädchen, schwarz gekleidet, sommersprossig, ist wach und klug und entschlossen. Sie spielt den Bass in einer Band, noch ohne Namen, jedoch mit einem ersten Lied, „Song 2“ von Blur. Sonntags sollen die Proben sein, in einem Raum der Schule, die Türen der Schule aber sind verschlossen, der Hausmeister lässt sich von Sandra überreden, Andy, na los, wir können sonst nirgends hin, und Andy macht sich jeden Sonntag mit seinem Schlüsselbund auf den Weg.
Sie arbeitet mit in einer Afghanistan-AG. Eine Mädchenschule bei Kabul soll aufgebaut werden. Die Schüler planen eine Ausstellung, der Krieg, die Flüchtlinge, die Frauen, sammeln auf Märkten Geld, werden von der Theodor-Heuss- Stiftung ausgezeichnet.
Sie faltet Figuren aus Papier, immerzu, auch im Unterricht, zeigt den anderen, wie man das macht, Origami, überall im Klassenzimmer hängen rote, grüne, blaue und weiße Sterne.
Sie mag Bio, Physik und Chemie. „Nur einmal“, sagt Mathieu, ein Schulfreund „mochte ich sie nicht leiden. Wir mussten ein Experiment durchführen. Ausnahmsweise wusste ich besser Bescheid als Sandra, erklärte ihr das Problem. Sie wurde von der Lehrerin aufgerufen, erklärte den Versuchsaufbau ein wenig komplizierter, gekonnter, bekam dafür eine zwei, ich nur eine drei.“ Mathieu lacht.
Sie spielt in einer Theatergruppe. Sie absolviert ein Praktikum in einem Fotoladen. Sie bäckt kleine Kokosmakronen für die ganze Klasse.
Der Tempelhofer Damm ist eine breite, laute Straße. Die Leute sind in Eile. Busse und Bahnen fahren nicht. Sandra will nach Hause. Sie biegt nach links. Neben ihrem Fahrrad tost ein Lkw. Die Sommersprossen, die dunklen grünen Augen, das dichte, kupfrige Haar. Sandra!
„Die müden Kinder dann auf den verstärkten Straßenverkehr loszulassen, wäre viel zu gefährlich.“ Das Aufsatzblatt liegt auf dem Asphalt, ein Abdruck des Lkw-Reifens prägt sich in das Papier.
Letztes Weihnachten. Sandra bekommt eine Ausgabe mit Gedichten von Friedrich Schiller. Sie bittet die Lehrerin, eines davon vor der Klasse aufsagen zu dürfen. In einem Thal bei armen Hirten / Erschien mit jedem jungen Jahr, / Sobald die ersten Lerchen schwirrten, / Ein Mädchen, schön und wunderbar. Tatjana Wulfert
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