Streit um A 100: Rot-Grün bleibt auf der Strecke
Nach einer Stunde war alles vorbei. Zu unüberbrückbar sind die Differenzen beim Weiterbau der A 100. Nun geben sich SPD und Grüne gegenseitig die Schuld. Volker Beck: "SPD kennt Unterschied zwischen Koalitions- und Kapitulationsverhandlungen nicht."
Volker Beck gibt Klaus Wowereit die Schuld. Andrea Nahles den Grünen. SPD und Grüne streiten munter, wer nun Schuld ist an dem Platzen der rot-grünen Koalitionsverhandlungen. Um 11 Uhr hatten sich die Delegationen beider Parteien im Roten Rathaus zur ersten gemeinsamen Sitzung getroffen. Es ging zunächst darum, einen "präzisierten" Kompromiss zum strittigen Ausbau der Berliner Stadtautobahn A 100 zu formulieren, bevor der Fahrplan für die Verhandlungen festgelegt und über die Finanzpolitik des Landes geredet werden sollten. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und der SPD-Landesvorsitzende Michael Müller gaben das Scheitern der Koalitionsverhandlung am Mittwoch bekannt. Die SPD sehe keine tragfähige Grundlage. Grund seien die unüberbrückbaren Differenzen zur Stadtautobahn A 100.
„Wir haben deutlich Kompromissangebote gemacht. Aber es gibt einen Punkt, wo alle Gespräche mal beendet sind“, sagte Müller. Der sei mit dem erneuten Kompromissangebot erreicht gewesen. "Wir erkennen hier nicht die Kompromissbereitschaft der Grünen", kritisierte der SPD-Chef.
Die Grünen-Landesvorsitzende Bettina Jarasch sagte, der Konflikt kreise nicht nur um die A 100, sondern um eine sinnvolle Infrastrukturpolitik überhaupt. Grünen-Fraktionsvorsitzenden Volker Ratzmann verwies darauf, dass seine Partei der SPD sehr weit entgegengekommen sei. Er frage sich jetzt nach dem Abbruch der Verhandlungen, ob die SPD tatsächlich mit den Grünen koalieren wollte.
„Absolut bedauerlich und schwer vermittelbar“, nannte der grüne Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland das Scheitern der Verhandlungen. Nach dem bisherigen Verlauf könne man aber nicht wirklich überrascht sein, sagte der frühere Berliner Justizsenator. Er erinnerte daran, dass es nach 2001 und 2006 „das dritte Mal gewesen ist, dass mit Wowereit keine rot-grüne Koalition zustande gekommen ist“. Bundesweit sei aber schwer zu erklären, warum eine in der Berlin gewünschte Koalition an drei Kilometern Autobahn scheitert, sagte Wieland. Wowereit, der die A100 nur knapp in der SPD habe durchsetzen können, habe nach der Devise gehandelt, "meinen Sieg über meine Partei lasse ich mir nicht mehr wegnehmen". Für die Grünen sei es dagegen darum gegangenen, nach der Zustimmung zum Bau des Kraftwerks Moorburg in Hamburg und der Mosel-Hochbrücke mit der A100 nicht zum dritten Mal den "Makel Umfallerpartei" zu haben. Befürchtet würden Auswirkungen bei der nächsten Bundestagswahl 2013. Aus Sicht der Bundespartei hätte dies schwerer gewogen als eine wünschenswerte Regierungsbeteiligung in Berlin. Wieland, der mehrfach die Festlegung gegen die A100 kurz vor der Wahl als ungeschickt bezeichnet hatte, gibt aber die Hoffnung auf eine erneute Wende nicht auf: "An eine Regierung Wowereit und Henkel glaube ich erst, wenn sie vereidigt ist."
Der Grünen-Bundesvorsitzende Cem Özdemir hat sich nach dem Scheitern der rot-grünen Koalitionsgespräche in Berlin kritisch zum Vorgehen des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD) geäußert. "Die drei Kilometer sind ein Symbol dafür, dass die SPD alles wollte. Sie hat die Grünen mit ihrem bisherigen Koalitionspartner, der Linkspartei verwechselt, wo sie alles bekommen hat. Wowereit wollte nicht auf Augenhöhe koalieren, sondern weiter wie bisher nur eine 'SPD plus'", sagte Özdemir dem "Tagesspiegel". Offenbar sehe sich Herr Wowereit als "König Klaus von höheren Gnaden". Der Grünen-Vorsitzende bezweifelte, ob die Berliner SPD ihrer Bundespartei mit dieser Entscheidung einen Gefallen getan habe. Aus Rot-Schwarz in Berlin könne im Bund leicht Schwarz-Rot werden, "für die CDU eine gute Nachricht". "Wowereits Schritt wird in der SPD noch turbulente Diskussionen auslösen."
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat das Scheitern der rot-grünen Koalitionsgespräche in Berlin bedauert, erklärt es sich aber mit der knappen Mehrheit, die ein solches Bündnis in der Hauptstadt gehabt hätte. Er sei "überrascht und ein bisschen auch enttäuscht", sagte Thierse dem Tagesspiegel. Doch: "Je knapper eine Mehrheit, umso verlässlicher muss die Vereinbarung sein, um so sicherer das Gefühl, dass man eine verlässliche Vereinbarung erreichen kann. Offenbar hat sich dieses Gefühl heute nicht richtig eingestellt." Der SPD-Politiker warnte davor, das Scheitern von Rot-Grün überzubewerten. "So wenig Rot-Grün der Himmel für Berlin gewesen wäre, so wenig ist Rot-Schwarz die Hölle."
Das Scheitern der rot-grünen Koalitionsverhandlungen in Berlin hat nach Ansicht von SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles keine Auswirkungen auf den Bund. "Die SPD wird daraus keine Rückschlüsse für die Zukunft für die Bundesebene ziehen", sagte Nahles dem Tagesspiegel. "Dass Rot-Grün nicht zustande gekommen ist, war eine rein regionale Entscheidung und ist nur der Stadtautobahn geschuldet." Nahles warf den Berliner Grünen vor, "intern nicht sortiert" gewesen zu sein. "Wenn es nun um die Ursachenforschung geht, sollten die Grünen sich an die eigene Nase fassen."
Der Linken-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, Udo Wolf, sagte dem Tagesspiegel, das Scheitern der rot-grünen Koalitionsverhandlungen habe ihn "nicht wirklich überrascht". "Es wurde von beiden Seiten schlecht verhandelt", sagte Wolf mit Blick auf das Streitthema A 100. Diese Problematik sei von vornherein als "Koch-und-Kellner-Thema" behandelt worden. Wirklich "dramatisch" sei aber die Tatsache, dass es nun zur Konstellation Rot-Schwarz komme, "die Berlin vor zehn Jahren in die Krise geführt hat und für Bankenkrise und Filz verantwortlich ist", sagte Wolf. Eine gemeinsame Opposition mit Grünen und Piratenpartei hat nach Ansicht des Linken-Fraktionschefs Vor- und Nachteile. Zwar gebe es viele inhaltliche Übereinstimmungen. "Aber es besteht auch die Gefahr, dass es zu einem Überbietungswettbewerb mit oppositioneller Pose kommt", sagte Wolf.
Der ersten Verhandlungsrunde waren bereits drei schwierige Sondierungstreffen zwischen SPD und Grünen vorausgegangen. Am Dienstag hatten sich Grüne und SPD zu einer letzten Sondierungsrunde getroffen. Dabei hatten sie sich grundsätzlich auf die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen verständigt. Am Abend hatte der Landesvorstand der Grünen eine leicht geänderte Formulierung zur A 100 zugestimmt, die den zwischen beiden Parteien gefundenen
Kompromiss zur A 100 genauer fasst. Viel genützt hat es nichts. Die Positionen von Grünen und SPD liegen zu weit auseinander. Im Kern geht es um 3,2 Kilometer Autobahn. Grüne und SPD hatten sich zwar darauf verständigt, das Projekt „nicht grundsätzlich“ aufzugeben. Man wollte sich dafür einsetzen, dass die Bundesmittel für den Weiterbau dieses 3,2 Kilometer langen Teilstücks beispielsweise für Lärmschutzmaßnahmen umgewidmet werden. Doch der Bund lehnte das ab und dann gingen die Interpretationen über diesen vermeintlichen Kompromiss auseinander. Die SPD sagt, es wird gebaut, wenn der Bund die Mittel nicht umwidmet und die Grünen sehen keine Chance für einen Bau.
Volker Beck, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion, schiebt Klaus Wowereit via Twitter die Schuld für das Scheitern der Koalitionsverhandlungen in die Schuhe. "Mein Eindruck: Wowereit wollte nie mit den Grünen über eine neue Politik für Berlin verhandeln, große Koalition kein gutes Signal für Bund." Gegenüber dem Tagesspiegel sagt Beck: "Ich habe meine Zweifel, ob die SPD den Unterschied zwischen Koalitions- und Kapitulationsverhandlungen kennt. Denn jetzt zeigt sich, dass Klaus Wowereit von Beginn an kein wirkliches Interesse an einem Bündnis mit den Grünen hatte." Beck sieht im Verhalten von Volker Ratzmann keinen Fehler: "Im Gegenteil: Die Grünen haben die vergangenen Jahr gegen die A 100 mobilisiert zusammen mit vielen Initiativen und insofern war es keine Neuigkeit, dass die Grünen gegen den Weiterbau sind." Für den Bund sieht er dann doch kein Signal, "aber es zeigt doch deutlich, dass die SPD nicht mit voller Kraft für einen Regierungswechsel kämpft. Im Bundesrat schwächen sie jetzt das rot-grüne Lager."
Es ist zu erwarten, dass die SPD nun Koalitionsgespräche mit der CDU anstreben wird. Dieses rot-schwarze Bündnis hätte eine komfortable Mehrheit. Während SPD und Grüne mit 78 Mandaten nur eine Stimme über
der absoluten Mehrheit von 77 Abgeordneten liegen, kommen SPD und CDU zusammen auf eine komfortable Mehrheit von 87 Stimmen. Mit der CDU hatte die SPD bereits elf Jahre koaliert. (Mit ctr/dapd/gn/m.m./sc)