Europa-Center im Wandel: Rest and Best of the West
Zu Teilungszeiten war die City West Symbol der Freiheit. Heute muss sie sich neu erfinden. Oder doch nicht? Während rundherum Neues entsteht, setzt das Europa-Center auf Visionen von früher.
Das hier muss der letzte Schrei gewesen sein, damals, als man das noch sagte: der letzte Schrei. Als das hier noch Zukunft war, ein Einkaufsparadies, alles neu, schick und unter einem Dach. Im West-Berlin der 60er Jahre, der ummauerten Antithese zum real existierenden Sozialismus, muss der Bau des Europa-Centers ein Signal gewesen sein: Seht her, wir können nicht nur KaDeWe, wir können auch ganz anders. Das Zukunftsgefühl von damals ist die Nostalgie von heute. „Unser Palast der Republik“ steht auf Plakaten von 2010, die das Center bewerben, „Super cool seit 1965“ auf anderen. Vergangenheit, das wird deutlich, hat das Europa-Center zuhauf. Aber hat es auch Zukunft? Ist es Kult- oder Unort? Die Mall schließt ihre Türen nie, finden wir es also heraus. Es dunkelt ja schon. Auf, hin, hinein.
18.14 Uhr „Nächste Haltestelle: Europa-Center“ – ein eigener Stopp für eine eigene Meile. Klingt erst mal logisch. Sechs Leute entsteigen dem Omnibus, ins Europa-Center drängt niemand, jedenfalls nicht direkt, sie steuern den Saturn-Markt an, der zwar zur Mall gehört, aber autonom erscheint. Ein Ausgang des Elektronikriesen öffnet ins Center, vorbei an rabattierten Waschmaschinen, er wird nur leidlich benutzt. Schnelle Außenbetrachtung, diese Schachtelarchitektur, unglaublich. Vier Versatzstücke summieren sich zum Europa-Center, Hochhausturm, Sockelschiff, Anbau und Apartmentfläche. 22 Stockwerke und 86 Meter ragt der Tower in den Himmel, Glas und Aluminium nach amerikanischem Vorbild, und auf dem Dach der Mercedes-Stern, drei Tonnen schwer, bei Sturm mit dem Wind drehend. Im Kalten Krieg strahlte er weithin nach Osten die Botschaft vom Kapitalismus und vom trotzigen Überlebensdrang des eingemauerten West-Berlin. Aus der Luft sieht man ihn auch durch Wolken. Aber müsste ein Stern, der das Center verkörpert, nicht sinken, stürzen sogar?
Freisein in der Tauentzienstraße
Geht es nicht bergab? Es geht erst mal durch die Flügeltür. Im Erdgeschoss sitzt Hieronimo Ceckiewicz, 62 Jahre alt, Porträtzeichner. Über Ahmet Tecimen, den Schuhputzer des Centers, wurde schon viel getextet, über Ceckiewicz, den Maler, weniger. Tecimens Schuhputzerthron ist verwaist, aber Ceckiewicz bleibt bis 22 Uhr, grafitschwarze Finger, bei Krakau geboren, seit 1982 in Berlin, er erzählt von Rubens, Kollwitz, Dürer und davon, dass die Familie Pepper nur wenig Miete nimmt.„In den neuen Malls könnte ich nicht zeichnen, die sind ja unbezahlbar.“
Sechs Minuten braucht er laut Schild pro Bild, tatsächlich sind es zwanzig, er lacht, Tränen, erst mal Kunden anlocken, weil: „Ohne Geld traurig.“ Böse meint der Pole nichts, kennt die Welt dafür vielleicht zu gut, war Grabmaler in der Bronx, in Paris Bildhauer, Restaurator in Charlottenburg, ein Hobo mit Staffelei, Zirkuseltern, US-Pass, Frau, zwei Kindern, jeden Tag sieben Kilometer Radweg an die Tauentzienstraße. „Hier kann ich frei sein“, sagt er und: „Das Europa-Center ist wie Museum.“ Aha! Ein Museum, das den Konsum nur noch kuratiert, ist das der tiefere Sinn dieses Relikts? Wo sonst gibt es denn noch Straßenmaler und Schuhputzer? Danke, Hieronimo. Tschüss, Hieronimo.
Im Europa-Center ist es leiser als im Museum
23.00 Uhr Die Läden haben geschlossen, das Europa-Center hat offen. Bei Nacht ist es hier noch leiser als im Museum. Leer wie die Mandschurai liegt die Mall, nur das Echo der Security, die durch die Etagen patrouilliert, hallt herbei. Die Wächter müssen ganz schön Strecke machen. 34 000 Quadratmeter Verkaufsfläche misst die Passage, beim Bau nannte man sie das deutsche Rockefeller-Center, aber der Vergleich mit den hängenden Gärten wäre passender, labyrinthische Gänge und Treppen verwirren den Blick. Über diese Fliesen sind Millionen flaniert, denkt man, auf diesen Pfeilern lasten Jahrzehnte. Es fühlt sich jetzt ein bisschen deprimierend an und drückend, auch, weil die Decken tief hängen. Die augenöffnende Shoppingarchitektur eines Rem Kohlhaas kam für das Europa-Center zu spät. Und natürlich gibt es längst monumentalere Häuser, das Alexa bewohnt 56200 Quadratmeter, die Gropius Passagen sind gar 85000 Quadratmeter groß.
Überdauerndes Shoppingmonster
Schnell ein Pint gegen das Unbehagen. Nerven beruhigen. Ab ins Untergeschoss in den Irish Pub, runter die Treppen, hoch die Tassen. Hier sitzen sie, die anprobiergeschlauchten Spät-Shopper und Touristen, aber eben auch Charlottenburger Zecher, Schnäpse ex trinkend. Die müssen doch wissen, ob das Center überleben kann, sind ja selbst Überlebenskünstler. Rolf und Martin, zentraler Stehtisch, Fragen zur Mall, na gut, aber mach schnell, Bursche. Und vorher noch zwei Brandy. Rolf sagt: „Schön war es hier noch nie, aber man kann auch hässlich überleben, schau mich an.“ Martin sagt: „Meine Kneipe hamse ja dichtgemacht, deshalb komm’ ich in’ Pub, Ku’damm is’ sonst tot.“ Rolf gibt dem Center noch fünf Jahre und dem Pub fünfzig, Martin sagt, wegreißen kannste dit Ding eh nicht, zu verkorkst gebaut, nee, dit bleibt, warum och nicht.
Wie bitte? Warum auch nicht? Andere Shoppingmonstren wurden später gebaut und früher planiert, das Europa-Center hat sie überdauert. Als Trutzburg, deren offizielle Zahlen so schlecht ja gar nicht sind. Angeblich 25000 bis 40000 Besucher pro Tag, 76 Läden, minimaler Leerstand. Nur: Man sieht sie nicht, diese behaupteten Massen, und an Gewerbe wie dem Übergrößeverkauf, den billigen Souvenir- und Scherzartikelshops, der Wasserpfeifenbude und dem Waffenverkauf stört man sich reflexhaft. Jetzt discofoxt Boney M. vom Band, da kann man sowieso nicht mehr klar denken, raus hier, zurück in die Stille. Plötzlich: Schritt, schlurfend. Sevgi ist da.
Stadt in der Stadt
02.52 Uhr Jedes Shoppingcenter funktioniert wie ein Mikrokosmos, Stadt in der Stadt, so wurde das Europa-Center einst sogar angekündigt, das heißt, neben den offensichtlichen Akteuren und Geschichten existieren versteckte, es gibt Normal- und Unterwelt. Sevgi bewohnt die Unterwelt. Er ist obdachlos, Rumäne mit Karl-Marx-Bart und Gebetskette, jetzt hat er sich durch die Tür zwischen Fantasytreffpunkt und Bavaria-Restaurant gedrückt. Ein Notausgang, und die Not kann man dem regendurchnässten Vagabunden nicht absprechen. Auf Zeitungen und Tüten rollt sich Sevgi embryonal zusammen, am Auge eine eiternde Wunde, das linke Ohr ertaubt, mit Glück kann er eine Stunde ruhen, dann kommt die Security, kontrolliert den Gang und verweist ihn wieder. Manchmal hört er sie kommen und flieht vorher. So geht das Nacht für Nacht. Ob das Europa-Center zeitgemäß ist, ist Sevgi egal, aber verschwände es, verschwände sein Unterschlupf. Andere Malls werden nach Ladenschluss verriegelt.
09.49 Uhr Neuer Tag, neuer Morgen, das alte Europa-Center. Alle drei Wochen wächst in Deutschland eine Shoppingmall aus dem Boden, hat die Wirtschaftswoche ermittelt. Gab es im Jahr 2000 gerade mal 279 dieser Multiplexe, waren es zehn Jahre später 428 Standorte, davon befinden sich heute laut Industrie- und Handelskammer 60 in Berlin, fünf in Charlottenburg-Wilmersdorf. Bald eröffnet noch das neue Bikini-Haus, ein weiterer Konsumtempel, vis-à-vis am Breitscheidplatz. Essen gehen die Bauarbeiter, die da an der neuen City West schrauben, immer noch im Europa-Center. Gehen wir mal mit. Frühstück am Mago Grill.
Krustenbraten im Brötchen. Viel Senf.
Auch kulinarisch hat das Europa-Center einiges drauf
Petra Had säbelt durch das Fleisch, Fett nieselt auf ihr Brett, wie viel, so gut, ja? Had, eine herzliche Frau mit Nickelbrille und Pinselfrisur, sagt zur Begrüßung Hallöchen und beim Servieren befiehlt sie: „Munden lassen!“ Bei Mago geht das Geschäft gut, fünf bis acht Krustenbraten pro Tag, im September erst hat sich der Imbiss hier eingemietet und 120000 Euro investiert. Besitzer Michael Roden sagt: „Woanders hätten wir das Doppelte gezahlt. Ich glaube an das Europa-Center, ich sehe hier eine Perspektive.“ Muss er auch, der Mietvertrag läuft fünf Jahre. Im kulinarischen Bereich deckt das Europa-Center viele Geschmäcker ab, aber die Leute, die hier essen, umklammern Tüten vom KaDeWe und H&M. Sie stärken sich im Europa-Center und kaufen woanders.
Eröffnungsrede von Willy Brandt
Trinkt man hier im „Food Court“ des Centers eine Cola, blickt man auf historische Bilder aus der Bauphase. Ein Frauentrio posiert da mit wehenden Röcken für die behelmten Bauarbeiter. Die Bagger und Kräne ziehen die Träger in die Höhe, im Hauruckverfahren, zwei Jahre nur. Und Willy Brandt hält seine Eröffnungsrede, am 2. April 1965 war das. Entschlossen sieht er aus und stolz die Menge hinter ihm. Hier-entsteht-Großes-Stimmung. Denn natürlich hatte Karl Heinz Pepper etwas nie Gesehenes geschaffen, die erste Mall, modern, bunt, amerikanisch. Wo vorher Catcherbuden und Schaschlikgrills, Erotikfilmbaracken und Zirkuszelte gestanden hatten, stand nun eine Glitzerwelt. Die Berliner bepilgerten das Haus enthusiastisch, die Eisbahn, das Kino. Früher.
Willy, hast du geahnt, dass das Europa-Center alles überlebt, sogar dich? Willy, hättest du gedacht, dass die Eisbahn stirbt und das Kino? Willy, es ist leer in den Gängen. Willy, das Mövenpick zieht aus. Willy, was wird denn jetzt?
11.41 Uhr Willy Brandt, Ex-Kanzler, Überbürgermeister, kann man nicht mehr fragen. Fragen wir also jemand anderen. Christian Pepper, Sohn des Centerbegründers, gilt als medienscheu, ein Interview ist unmöglich. Centermanager Uwe Timm geht ans Telefon. Herr Timm, braucht es das Überbleibsel noch? „Natürlich ist nicht alles perfekt, aber deshalb mit allen Traditionen brechen? Deshalb komplett renovieren, damit das Center aussieht wie jede andere Mall in diesem Land? Nein, das ist nicht der Weg.“ Die Architektur? Ist, wie sie ist. Das Bikini-Haus? Wird uns guttun, die Baustelle war schlimmer. Die Zukunft? Nike. 2014 zieht der Sportausstatter ein, an ihn knüpfen sich große Hoffnungen, vor allem auf jüngere Gäste. Im Café Tiffany’s sind sie besonders alt.
Ein guter Ort zum Schule schwänzen
12.10 Uhr Vito hat einst, wenn er mit Kumpels die Schule schwänzte, im Europa-Center herumgelungert. Jetzt kellnert er im Tiffany’s, das wie das Entree der Titanic aussieht, kleine Terrassen, die sich über ein Becken schichten, in der großen Glaskuppel bricht die Sonne. Der einzige Ort, an dem Tageslicht in das Center-Zentrum dringt. Vito, 27, hilft einer Ewigkundin in den Mantel. „Viele kennen wir bereits seit Jahren.“ Was, wenn diese Langjährigen scheiden? Die Dame wird 92. Kommen genug Touristen und Laufkunden? „Ist wie im Bahnhof“, sagt Vito. „Zack-zack-zack.“ Blicke ins Rund, vereinzelte Gäste, ja, zack-zack-zack: nein. Dieser Hauch von Chlor in der Nase.
Unterm Tiffany’s stand der Lotusbrunnen, er wurde eingemottet. Jetzt fließt das Wasser statt über Blätter einfach aus der Mitte an den Poolrand und über eine Pumpe zurück. Die Endlosbewegung als Metapher auf die Mall? Die immer weitermacht und so bleibt, wie der Partner, der nicht mehr heiß ist, aber verlässlich, zu dem man nicht mehr aus Herzklopfliebe hält, nur aus Routine. Ist es das? Warm, aber bedingt sexy?
16.07 Uhr Im Web präsentiert sich das Center mit einem Film: Eine dauergrinsende Familie federt über die Flure, dann laufen Vater und Sohn zu den Flachbildfernsehern, Mutter und Tochter zu den Handtaschen. Es ist so viel Rollenbildklischee, dass man den Kopf schüttelt, und auch die Verve der Protagonisten lässt sich nicht nachvollziehen. Am Nachmittag federt hier jedenfalls keiner, und man selbst ist ausgelaugt von zu viel drinnen, zu wenig draußen. Gar keine Ahnung, ob es regnet oder die Welt vor die Hunde geht, alles egal. Käseglocke Europa-Center. Nur einer dreht seine Runden, der Mützenmann, man sieht ihn täglich, wie er die obere Balustrade umkreist. Einsamkeitsbeschäftigung. Reden will er nicht, ist verstummt am Center. Vor der Uhr der fließenden Zeit, dieser kugelförmigen Fantasmagorie, einer von vielen skurrilen Installationen im Center, fotografieren sich japanische Touristen. Du musst die Zeit totschlagen im Europa-Center. Sonst schlägt die Zeit dich tot.
Besucherzuwachs in der City West
Darum: Mails checken, Maike Al-Habash, Branchenkoordinatorin der IHK Berlin, hat geantwortet. „Die City West verbucht seit Jahren einen Besucherzuwachs. Davon profitiert auch das traditionsreiche Europa-Center, das sich in seiner Form als Alternative zu den großen Shopping-Centern der Stadt präsentiert.“ So kann man das natürlich auch sehen. Was schreibt Klaus-Jürgen Meier, Vorsitzender der AG City? „Das Europa-Center ist aus der City West nicht wegzudenken und selbstverständlich zeitgemäß. Es hat eine Geschichte zu erzählen und ist deshalb, vor allem bei jungen Leuten, wieder Kult.“ Ein Bomberjackenträger trabt vorbei, seinem Bomberjackenträgerkumpel hinterher, er ruft: „Ey, lass mal raus, Mann. Was willst du hier drin?“
Epilog Und das war es dann. Die Spurensuche endet, zurück bleiben Eindrücke, Gedanken, Fetzen. Von einer Mall mit Malus, mehr ins 21. Jahrhundert gestolpert als geplant, obsolet eigentlich, verödet an manchen Ecken, zugleich aber Veste der Sentimentalität und manifeste Erinnerung. Dieser Charme des Gebrochenen, diese Patina. Best of the West. Rest of the West. Ein Center der Vergangenheit. Das doch irgendwie der Zukunft trotzt.
Moritz Herrmann