Debatte um Atelier-Abriss: Räumung am Tacheles vorerst gestoppt
Am Morgen hatte ein Zwangsvollstrecker unbehelligt begonnen, eine Metallwerkstatt am Tacheles zu räumen. Doch dann hat das Amtsgericht Mitte die Räumung vorerst gestoppt.
Der schwarz gekleidete Mann vom Sicherheitsdienst schraubt die blinkende Eisenklammer fest, die zwei Zaunelemente fixiert. Die Grenzen auf dem Tacheles-Areal werden an diesem frühen Montagmorgen neu vermessen. Der Zwangsvollstrecker hat einen Räumungstitel erwirkt. Im Auftrag der HSH-Nordbank trotzt er den Künstlern noch ein Stück Bauland ab: Da steht die „Metallwerkstatt“ drauf, die nun umzäunt wird. Es ist ein vier Meter hoher Unterstand, aus Holz, Kunststoff- und Blechteilen gezimmert, mit einer Feuerstelle, auf der die Künstler Eisenskulpturen schmiedeten. Wütende Proteste gibt es nicht. Ein Dutzend Künstler beobachtet das Treiben, einige ziehen einen großen schwarzen Eisentorso raus aus der umzäunten Fläche. Andere stimmen ein Lied an, auf Spanisch. Den Ruf nach dem „Commandante“ glaubt man da zu hören. „Die Emotionen kochen nicht mehr so hoch“, sagt Martin Reiter, Sprecher der Künstler. „Dann können sie doch gleich nach Schwanebeck umziehen“, wirft ein Wachschützer ein, breite Schultern, gefühlte zwei Meter groß. „Schwanebeck?“ fragt ein anderer, zu ihm aufblickend. „Auf die Müllhalde“, gibt der Riese zur Antwort. Aber der Wachmann unterschätzt das Beharrungsvermögen der Künstler. Noch bevor mittags der Bagger anrollt, erwirken sie vor dem Amtsgericht Mitte die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung. Ein Richter will erst in einer mündlichen Verhandlung klären, ob die ganze Metallwerkstatt abgerissen werden darf oder nur ein Teil. Der Zaun bleibt aber bestehen. Weil die Bauaufsicht die Tragfähigkeit des Daches bezweifelt, soll ein Statiker sie überprüfen. „Im Grunde genommen wird der Staat an der Nase herumgeführt“, sagt der Zwangsverwalter des Tacheles Holger Schwemer. Ständig treten neue Künstler auf und erheben Ansprüche auf Teile des Areals. Gegen jeden von ihnen muss Schwemer dann einen eigenen Räumungstitel beantragen.
Weil der Streit weitgehend über die Gerichte ausgetragen wird, bleibt die Polizei dezent im Hintergrund: „Beide Seiten verhalten sich sehr professionell“, lobt Polizeisprecher Jens Berger. Der Einsatz verlaufe „völlig ruhig“. Zu den Drahtziehern der Räumung zählt Rechtsanwalt Michael Schultz. Er hat einen kanadischen Parka mit fellumrandeter Kapuze übergestreift und zieht einen gefalteten weißen Zettel aus seiner schwarzen Jeans: „Hat mir ein Künstler zugesteckt, ich soll ihn anrufen“, sagt er. Schultz unterstützt die Räumung des Tacheles im Auftrag eines Investors, den er nicht nennen will, und erklärt das zur Millionenfrage: Den Betreiber des Cafés Zapatas hatte er als Ersten mit Barem zum Aufgeben verführt. Andere Künstler folgten dem Beispiel. Mit Geld locken und mit der Räumung drohen – erfolglos ist diese Strategie nicht.
Lesen Sie auf Seite 2, warum manche Künstler trotz allem bis zum Schluss ausharren wollen.
Sebastian Rohr, 27, will trotzdem bleiben – „so lange wir Schultz ärgern können“. Seit eineinhalb Jahren ist der Mann mit dem Oberlippenring auf der Freifläche tätig. Sein „Atelier“ ist durch den jüngsten Einsatz auf einen Korridor zusammengeschrumpft, der durch die freigekauften abgezäunten Grundstücksteile führt. Dieser Weg ist gesäumt von Kunstwerken: Büsten, abstrakte Plastiken oder Fabelwesen, überwiegend aus rostbraunem Eisen. Acht Tage haben die Künstler nun Zeit, ihre Skulpturen abzuräumen. „Danach lagere ich sie ein, denn Kunst ist Kunst“, sagt Zwangsverwalter Schwemer. Gut möglich ist aber auch, dass die Künstler die Stücke an das äußerste Ende des Geländes schleppen werden. Dort nämlich steht schon wieder eine neue Hütte, die nicht abgerissen werden darf. Diese entstand, während der Räumungstitel geschrieben wurde – sie wird von diesem also (noch) nicht erfasst.
Dass am frühen Montag geräumt werde, hatte Rechtsanwalt Michael Schultz dem Tagesspiegel bereits am Sonntag bestätigt. Zehn Künstler betreiben hinter der Kaufhausruine noch ihre Werkstätten, schmieden Metallskulpturen und verkaufen Schmuck an Touristen.
Das Amtsgericht Mitte hat nach Tagesspiegel-Informationen für den 31. Januar 2012 eine weitere Zwangsversteigerung angesetzt. Der erste Termin war im April dieses Jahres überraschend geplatzt. Spätestens Ende des Jahres soll das ganze Ruinen-Areal geräumt sein, sagt Rechtsanwalt Schultz, der seine Auftraggeber nicht verraten will. Wirtschaftlicher Eigentümer der 16 Grundstücke mit einem Verkehrswert von rund 35 Millionen Euro ist die HSH-Nordbank. Sie hatte einer Tochterfirma der Fundus-Gruppe Millionenkredite für Erwerb und Entwicklung des Areals gewährt, dafür aber nicht die vereinbarten Zinsen erhalten. Deshalb betreibt die HSH-Nordbank die Zwangsversteigerung des Tacheles.
In den 30 Ateliers arbeiteten zeitweise bis zu 100 Künstler. Sie verfügten über günstige Mietverträge, die aber im Jahr 2008 ausliefen. Als die HSH-Nordbank die marktübliche Miete forderte, meldete der Verein Insolvenz an. Wie viele Künstler insgesamt im Haus verblieben sind, ist unklar. Die Touristen stöbern weiter fasziniert durch das grimmig-schaurige Tacheles-Chaos, kaufen Andenken und machen Fotos. 170 000 Unterschriften für die Erhaltung des Tacheles seien zusammengekommen, sagt der ehemalige Vereinsvorstand Martin Reiter. Er fordert die Einrichtung einer Stiftung, um das Haus vor einer profitablen Vermarktung zu schützen. Doch die Nordbank will das gesamte Areal samt Ruine verkaufen. Investoren und Bänker spielten offensichtlich auf Zeit und „auf den Winter“, sagt Reiter, „wir haben keine Heizung im Haus.“