"Critical Mass" in Berlin: Radlerbewegung legt Autoverkehr lahm, doch der Zulauf sinkt
Am vergangenen Schlechtwetter-Freitag sind wieder hunderte Radfahrer im Fahrradkorso Critical Mass durch Berlin gefahren. Doch der Zulauf zu der umstrittenen Fahrraddemonstration scheint zu sinken.
„Sind das immer so wenig?“ fragt der Critical-Mass-Neuling, als er das Häuflein von etwa 30 Radlern sieht, die auf dem Heinrichplatz warten. Er hatte sich etwas mehr erwartet, eigens sein gutes Rad mit der Deluxe-Gangschaltung und den schicken, verschnörkelten Naben rausgeholt, nicht etwa das alte BMX-Rad. Aber wozu? Ein harter Kern Outdoorkleidung tragender Radler trotzt an diesem Schlechtwetter-Freitag dem Regen. Einige haben ihr Feierabendbier mitgebracht, viele fachsimpeln und zeigen ihre Räder vor, ein ordnungsbdürftiger Mensch in orangener Warnweste läuft herum und fragt, ob man bereit sei, loszufahren. Und endlich kommt sie, die Masse, die das Grüppchen doch noch zu einer kritischen macht: Um die 150 Radfahrer stoßen vom Mariannenplatz dazu, Nachzügler trudeln ein und langsam setzt sich der Tross in Bewegung, entlang der Oranienstraße, vorbei am Oranienplatz, wo ein Banner proklamiert: „You can’t evict a movement“. Nein, die Bewegung „Critical Mass“ lässt sich nicht vertreiben.
Die Gäste in den Cafés schauen verwundert, Fußgänger, die gerade die Straße queren wollen, springen erschrocken zurück, weil sie fast von Rädern gerammt werden. Autofahrer, die an den Einmündungen im Stau stehen, protestieren lautstark. Der Tross fährt gnadenlos bei Ampelrot weiter, blockiert damit den abbiegenden Autoverkehr. „Es ist Rot!“, rufen sie in den Pkw. „Na, und?“ schallt es aus dem Tross. „Wir dürfen das!“ Damit haben die Radbewegten sogar recht: Ab einer Teilnehmerzahl von 15 Radlern wird ein Fahrradpulk als ein Fahrzeug gezählt. Er darf, ähnlich wie der Sattelschlepper mit Überlänge, auch dann auf der Kreuzung sein, wenn die Ampel schon Rot zeigt.
Schwankende Teilnehmerzahlen
Überlänge hat der Fahrradkorso, der zwischen 20 und 22 Uhr ein große Schleife vom Potsdamer Platz Richtung Zoo, dann über den Ku’damm, am Westhafen vorbei durch Wedding, am Bahnhof entlang und schließlich nach ein paar Runden um die Siegessäule zum Brandenburger Tor zieht, an diesem Abend allerdings weniger – vor allem im Vergleich zu früheren Veranstaltungen. Radelten bei Critical Mass am 27. Juni nach Schätzung des Critical-Mass-Webseiten-Betreibers Bernd-Michael Paschke etwa 2000 und nach Schätzung der Alternativ-Webseite itstartedwithafight.de um die 2700 Radfahrer mit, kommt die Juli-Veranstaltung auf etwa 250 Teilnehmer, also nur ein Zehntel der Radfahrer im vorherigen Monat. Die Schwankungen sind nicht ungewöhnlich: Bei richtig ungemütlichem Winterwetter waren es auch schon mal zwei einsame Radler, erinnert sich Paschke. Doch der Hype in den letzten Monaten und der darauffolgende Abwärtstrend sind nicht so ganz zu leugnen.
Dieses Mal waren nur 50 Polizisten rund um den Korso im Einsatz, einer davon macht ganz entspannt Pause, als der Tross auf halber Strecke nach Überqueren der Föhrer Brücke einen Orientierungsstopp einlegt. „Wo sind denn deine Kollegen“, fragt ein Radfahrer. „Die schlafen schon alle“, antwortet der lachend. Besondere Vorkommnisse gibt es an diesem Abend nicht. Die Vorhut der Polizei macht die Straßen nach vorne frei und sperrt für die Minuten ab, in denen der Tross vorbeizieht. An den Seitenstraßen stehen Critical-Mass-Radler und stellen sich vor verständnislose Autofahrer, die in dieser Zeit am Weiterfahren gehindert werden. Nur als ein Polizeiwagen mit Blaulicht zwischen Bahnhof und Regierungsviertel angerast kommt, macht man eine Ausnahme und stoppt den hinteren Teil des Zugs.
Radler mit Biervorräten
Vielleicht hat den Radrebellen in der kritische Radlermasse in den letzten Monaten das massive Polizeiaufgebot, gepaart mit gutem Wetter und Spitzen im Touristenverkehr, den großen Zulauf beschert. Wirklich neu und aufregend scheint Critical Mass nicht mehr: Mittlerweile fahren Radler mit Biervorräten mit, die andere für einen selbstgewählten Betrag versorgen. Außerhalb des harten Kerns geht die Überzeugung flöten.
Dass die Bewegung nicht allen sympathisch ist, liegt sicher auch am Übermut schnellerer Radler. Eine Vollbremsung Richtung Polizeimotorrad, freche Rufe in Richtung der Passanten, die auf Ampelinseln plötzlich eingekesselt sind, der Versuch, selbst durch den Tiergartentunnel zu fahren oder die Häme von Teilnehmern, die sich sichtlich freuen, wenn der Feind Autofahrer sich über die Blockade ärgert, zeigen, dass selbst eine verkleinerte kritische Masse für andere Verkehrsteilnehmer immer noch eine kritisch beurteilte Bewegung bleibt.