zum Hauptinhalt
Radwanderung, Gratwanderung. Die meisten Radwege sind zu schmal zum Überholen – oder die Radler weichen gleich auf den Gehweg aus. Entsprechend häufig sind Konflikte zwischen den unterschiedlich schnellen Verkehrsteilnehmern.
© Doris Spiekermann-Klaas

Unfälle in Berlin: Rad-Kennzeichen bringen nicht mehr Sicherheit

Ein Rennradler überholt rücksichtslos eine andere Radfahrerin, die daraufhin fällt – und der Mann begeht Unfallflucht. Eine Kennzeichnungspflicht würde die Aufklärung aber kaum erleichtern, sagt ein Experte.

Die Seniorin war dem Rennradfahrer wohl nicht schnell genug unterwegs – als er überholen wollte, krachte es: Am Samstagmorgen wurde eine 75-Jährige auf dem Radweg des Haselhorster Damms schwer verletzt, als sie von einem anderen Radler während eines Überholmanövers touchiert wurde. Während sich der Rennradler im Sattel hielt und einfach weiterfuhr, stürzte die Seniorin und liegt mit Beinverletzungen im Krankenhaus. Bislang sei sie noch nicht zum Unfallhergang befragt worden, teilte die Polizei am Montag mit – und vom Rennradler fehlt noch jede Spur. „Bisher ist uns nicht bekannt, ob sich der Unfallverursacher gemeldet hat“, sagte ein Polizeisprecher.

Die Unfallflucht des Rennradlers ist eine Straftat – aber angesichts der rechtlichen Rahmenbedingungen für den Täter möglicherweise eine verlockende Möglichkeit, um sich aus der Affäre zu ziehen. Daran dürfte selbst eine Kennzeichenpflicht für Fahrräder – die in der Schweiz übrigens nach mehreren Jahrzehnten Ende 2011 abgeschafft wurde – wenig ändern. Siegfried Brockmann, der die Unfallforschung der Versicherer (UDV) leitet, sieht das Problem in der „immer mal wieder geführten, aber nie zu Ende gebrachten Diskussion um die Halterhaftung“.

Eine Frage der Versicherung

Die existiert nur für den ruhenden Verkehr, beispielsweise für falsch parkende Autos: Deren Halter muss ein Knöllchen auch bezahlen, wenn er das Auto nicht selbst im Parkverbot abgestellt hat. „Aber im fließenden Verkehr müssen Sie den Fahrer ermitteln“, sagt Brockmann. „Dafür brauchen Sie nicht nur das Kennzeichen, sondern jemanden, der geistesgegenwärtig den Fahrer fotografiert.“ Sonst könne der Halter des Fahrzeuges bestreiten, selbst gefahren zu sein und sich ansonsten unwissend geben – so, wie es viele Autofahrer nach Blitzerfotos tun.

Im Fall eines Unfalls übernimmt allerdings bei Autofahrern die vorgeschriebene Haftpflichtversicherung den Schaden des Gegners. Radfahrer aber müssen nicht unbedingt eine private Haftpflichtpolice haben, die die Schäden des Opfers begleicht. Während also dem Autofahrer nur eine Erhöhung seiner Versicherungsprämie um vielleicht 100 Euro droht, kann ein schwerer Personenschaden den radelnden Verursacher ruinieren, sofern er keine Privathaftpflicht hat. Dieses Risiko betrifft laut Brockmann „mehr als 20 Prozent der Haushalte in Deutschland“.

Die Halterhaftung wiederum lehnen viele Juristen vehement ab. Denn niemand soll für eine Tat belangt werden können, die er gar nicht begangen hat. „Das Kennzeichen an sich würde meiner Ansicht nach fast gar nichts nützen“, resümiert der Unfallforscher. Ein Ausweg aus dem Dilemma sei „auch perspektivisch nicht zu erwarten“. Als jederzeit machbare Alternative sieht er nur, dass Zeugen einschreiten und den Verursacher – der ja in diesem Fall zum Straftäter wird, wenn er eine fahrlässige Körperverletzung begeht – einfach festhalten und an der Flucht hindern.

Vorteil der Kennzeichnung

Einen weiteren Ansatz sieht Brockmann, um die Rechnung etwas zulasten der mutmaßlichen Täter zu verschieben: Dem Fahrzeughalter könnten zumindest die Kosten des Verwaltungsverfahrens, also der Schriftwechsel mit den Behörden, aufgebrummt werden. Damit käme er nicht ganz kostenfrei davon. Ein Versicherungskennzeichen wie bei Mopeds oder wie die ehemalige Schweizer „Velovignette“ (die am Sonntagabend auch im ARD-Tatort auftauchte) hätte aus Sicht der UDV einen weiteren Vorteil: Die mutmaßlich enorme Dunkelziffer der Fahrradunfälle würde verringert. In einer Studie fand die UDV heraus, dass mehr als zwei Drittel aller Unfälle mit Radfahrerbeteiligung gar nicht polizeilich gemeldet wurden. Selbst drei Viertel der Radfahrer, die sich im Krankenhaus behandeln ließen, tauchten in keiner Polizeiakte auf.

Dass Unfallflucht trotz erheblicher möglicher Strafen ein Massendelikt ist, zeigt ein Blick in die Unfallstatistik der Berliner Polizei: Bei 29 000 von 131 000 Crashs im vergangenen Jahr verschwand der mutmaßliche Verursacher. Dabei ging es keineswegs nur um Schrammen beim Ausparken. Zurück blieben auch 1540 Leicht- und 121 Schwerverletzte sowie ein tödlich verletztes Opfer.

Stefan Jacobs, Timo Kather

Zur Startseite