Bötzow-Viertel in Berlin: Prothesenbauer "Otto Bock" zieht in die alte Brauerei ein
Das Areal der Bötzow-Brauerei wird umgebaut - und ist Hauptthema des neuen Wirtschaftsmagazins "Tagesspiegel Köpfe". Wir stellen verschiedene Aspekte der Brauerei vor - beginnend mit einem Porträt von Hans Georg Näder, Chef des Prothesenbauers Otto Bock.
Eigentlich wollte Hans Georg Näder nur eine neue Yacht bestellen. Doch dann kaufte er gleich die ganze Werft.
Hans Georg Näder geht von Bord seiner 46 Meter langen Segelyacht "Pink Gin", steigt über ins schwarze Motorboot und fährt Richtung Strand. Der kleine Russell-Terrier Otto ist auch schnell rübergehüpft, die Mannschaft bleibt zurück und winkt. Ende eines gewöhnlichen Urlaubs. Seit 45 Jahren kommt Näder im Sommer hierher, früher noch den langen Weg von einem niedersächsischen Städtchen bis zur Costa Smeralda auf dem Rücksitz der goldbraunen S-Klasse seines Vaters Max; heute fliegt er mit dem Privatjet. Nach dem Start blättert er durch ein paar Zeitungen. Im "Tagesspiegel" bleibt er hängen an der Reportage über den Landkauf von Spekulanten und liest dann die Geschichte über den bevorstehenden Abriss der Kant-Garagen.
Der Mann hinter dem weltweit führenden Unternehmen für Medizintechnik "Otto Bock"
Am Abend zuvor hat er viel von Berlin gesprochen, über den Gründergeist, die Chancen der Stadt – und das Risiko, sie zu verspielen. Jetzt sind wir im Landeanflug auf Frankfurt am Main, General Aviation Terminal, hier steigt HGN, wie ihn seine Mitarbeiter nennen, in einen silbernen Audi und lässt sich zur Lufthansa fahren. Um 14 Uhr geht es weiter für ihn, nach Los Angeles. Über dem schwarzen Polohemd liegt locker geschlungen ein voluminöser, blassrosa Schal. Die bunten Bermudashorts hat er immer noch an.
Wer ist dieser Mann, dessen Großvater vor 94 Jahren im Hinterhof der Köpenicker Straße 147 damit begann, Prothesen für Kriegsversehrte herzustellen, der das Unternehmen 1990 von seinem Vater übernahm und heute das weltweit führende Unternehmen für Medizintechnik leitet? Über die Hälfte des Jahres ist er unterwegs, den Winter verbringt er in Uruguay, wo er ein Grundstück besitzt.
100 Millionen Euro für die alte Bötzow-Brauerei
Doch jetzt will er 100 Millionen Euro in die alte Bötzow-Brauerei an der Prenzlauer Allee investieren, Kreative und Organisierte zusammenbringen in einem Future Lab, mitten in Berlin die Zukunft erfinden. Seit ein paar Jahren wohnt er im Beisheimcenter am Potsdamer Platz, 17. Stock, auch wenn ihm die Fasanenstraße eigentlich besser gefällt. Er gilt als Wohltäter, sammelt Kunst, liebt Design, die Leute sprechen über ihn mit Bewunderung und Respekt. Er wirkt besonnen und ruhig, kann spontan sein und schnell. Fragt man ihn, ob er sich für exzentrisch hält, sagt er, vielleicht, ein bisschen, aber Sie kannten ja meine Mutter nicht. Millionen Menschen verdanken seiner Firma, dass sie wieder gehen, greifen, sich bewegen können, Dankesbriefe kann er aus dem Gedächtnis zitieren. Den neuen Papst bezeichnet er als Glück für die Welt. Als Lebensziel nennt er: Querschnittsgelähmten zum Gehen zu verhelfen.
Auf seiner Karte steht "Prof. Hans Georg Näder, President and Chief Executive Officer, Otto Bock Holding GmbH & Co. KG, Max-Näder-Straße 15, 37115 Duderstadt". Die Mobilnummer schreibt er bei Bedarf mit dem Kuli dazu. Was dort nicht steht: Produktionsstandorte und Niederlassungen in Europa, Asien, Afrika, in Nord- und Südamerika, nebenbei Mehrheitseigner von Baltic Yachts in Finnland, Eigentümer eines Modeshops in St. Tropez, Lehraufträge in Göttingen und Peking, knapp 794 Millionen Umsatz im vergangenen Jahr, eine Milliarde in diesem, zuletzt 128 Millionen Gewinn, zweistellige Wachstumsraten, 7000 Mitarbeiter weltweit, bald schon 10.000, immer höher, schneller, weiter.
Der Anfang: Duderstadt, Rathaus, 7. Oktober 2005
Der Deutsche Behindertensportverband hat zu seinem Verbandstag in die niedersächsische Stadt geladen, Funktionäre sind gekommen, Politiker, auch Kati Witt ist da, sie hat eine Stiftung für die Förderung behinderter Kinder gegründet. Als im Rathauskeller der gesellige Abend beginnt, sind draußen in der Fußgängerzone die Glastüren der Geschäfte längst verriegelt. Hier in Duderstadt ist Hans Georg Näder geboren, Fachwerkhäuschen, Kopfsteinpflaster, etwas mehr als 20.000 Einwohner, seit Ende 2012 ein eigenes Autokennzeichen ("DUD"). Ohne das Unternehmen Otto Bock wäre der Verband nicht auf die Idee gekommen, hier seinen Kongress zu veranstalten, ohne Otto Bock wäre in Duderstadt überhaupt wenig los.
Die Firma, die hier an ihrem Stammsitz 1500 Mitarbeiter beschäftigt, gehört zu den größten Förderern des Behindertensports. Und ohne Hans Georg Näder, den Enkel des Firmengründers, in der ganzen Region als Mäzen geschätzt, Ehrenbürger der Stadt, gäbe es hier nicht die Kunsthalle HGN mit ihren 100 Bildern von Helmut Newton, nicht das Schützenmuseum, nicht den Masterplan Duderstadt 2020, nicht das Tabalugahaus, ein Projekt für schutzbedürftige Kinder, das er mit Peter Maffay gegründet hat. Auch das jahrhundertealte Hotel zum Löwen, das ihm gehört, wäre ohne ihn nur eine abgewohnte Kleinstadtherberge; heute ist es ein modern restauriertes Kunstwerk.
Näders Stützpunkt in London, Canary Wharf, 31. August 2012
Es sind die letzten Tage der Paralympics, die Stadt feiert die Verlängerung der Olympischen Spiele. Die "Pink Gin" liegt mitten im Bankenviertel am Kai der Docklands, Kapitän Henry Hawkins hat sie hierher gesegelt, die Yacht ist Näders Stützpunkt. Hier empfängt er Geschäftspartner und Gäste, hier übernachten Freunde, Mitarbeiter und seine Töchter. Wir sind hier verabredet, wir sprechen über die "Paralympics Zeitung", ein Medienprojekt mit Millionenauflage, das der Tagesspiegel seit 2004 begleitet.
Für Otto Bock Healthcare sind die Paralympics eine Art Leistungsschau. Die Spitzenathleten tragen High-Tech-Produkte des Unternehmens, mikroprozessorgesteuerte Prothesen, Spezialanfertigungen. Sie erreichen damit Leistungen, die denen bei Olympia kaum noch nachstehen. 78 Techniker von Otto Bock betreuen die Sportler während der Spiele, 15.000 Ersatzteile liegen bereit – die Kosten übernimmt die Firma.
Am Vorabend hatte Otto Bock zu einem Empfang ins Holiday Inn am Olympic Parc geladen, 21. Stock. Hans Georg Näder und der Präsident des International Paralympic Committee, Sir Philip Craven, unterzeichnen einen neuen Sponsorenvertrag. Die Gäste werden begrüßt von Bettina Wulff, Näder hat sie als Repräsentantin engagiert. Näder kennt sie aus der Zeit, als Christian Wulff noch Ministerpräsident von Niedersachsen war. Zur Hannover-Connection hat er Abstand gehalten; manchmal mied er ein Restaurant, um dem einen oder anderen aus dem Weg zu gehen. Als Näder vor Jahren eine Einladung zum "Nord-Süd-Dialog« auf den Tisch bekam, eine obskure Veranstaltung, die Wulff und seinen Sprecher später schwer in Bedrängnis bringen sollte, schrieb er darauf: »Was ist denn das für ein Quatsch?"
Am nächsten Tag auf der "Pink Gin". Unter Deck wird das Essen abgeräumt, Näder breitet Fotos aus auf dem Tisch. Sie zeigen eine alte Brauerei in Berlin: Bötzow. Seit zwanzig Jahren passiert hier nicht viel, ein paar Partys, ein paar Interessenten, aber niemand hatte bisher eine tragfähige Idee, was mit dem Gelände, dem Gemäuer, den Kellergewölben anzufangen ist. Hans Georg Näder hat viele Ideen für Bötzow. Und einen Plan.
Berlin, Prenzlauer Allee 242, 4. Juli 2013
Auf Bötzow ist inzwischen einiges passiert. Tim Raue hat in die rohen Gemäuer ein Restaurant gesetzt, Gregor Scholl eine Bar, mittendrin ist Kunst ausgestellt, heute gibt es hier die dritte Vernissage: Fotos von Eva Hassmann und Flavia Da Rin. Näder begrüßt die 250 Gäste, auf der Homepage boetzowberlin.de werden ein paar genannt: David Chipperfield, Mehdi Chouakri, Jörg Wortmann, Thomas Oppermann, Tom Tykwer, Friedhelm Julius Beucher, Niels Ruf, Sven Martinek. Einer der Erwähnten wird später eine bedeutende Rolle auf Bötzow spielen, aber das wissen die anderen da noch nicht.
Porto Cervo, 10. August 2013, 22 Uhr
Wir fahren mit dem Schlauchboot zur "Pink Gin" hinüber. Näder sitzt am Steuer, dreht auf, der Bug hebt sich aus dem Wasser, am Heck saugt sich der Außenborder ins blauschwarze Meer. In der Ferne liegt eine Motoryacht, drei rosa beleuchtete Decks. Spöttisch dreht Näder eine Runde um das Schiff, das einen russischen Namen trägt, misstrauisch beobachtet von Männern mit ausgestellter Muskelmasse.
Es war nicht leicht, ihn in diesem Sommer zu treffen, um über seine neuen Pläne für Bötzow zu sprechen; nach dem Urlaub war gleich eine Reise in die USA geplant. Auch in Brooklyn soll ein Science-Center von Otto Bock entstehen, wie das in Berlin, eröffnet 2009. Fast eine halbe Million Besucher kamen bisher in die Ebertstraße, um sich anzuschauen und zu erleben, was die Technik von der Natur lernen kann, um Menschen nach einem Unfall, nach einer Krankheit das Gehen und Greifen wieder möglich zu machen.
Dann doch noch der Anruf aus seinem Büro in Duderstadt: Ein Treffen am letzten Urlaubstag auf Sardinien sei möglich, Samstagnachmittag von Schönefeld nach Olbia. Sonntagmorgen zurück, Übernachtung auf der "Pink Gin". "Herr Näder bat, Ihnen mitzuteilen, dass der Dress Code ganz leger ist, Shorts, Shirts und Badehose sind völlig ausreichend." Eine Einladung.
Am frühen Abend legt Näder ein 64 Seiten starkes Heft in DIN A4 auf den Tisch, auf dem weißen Deckblatt steht: David Chipperfield – Bötzow Brewery Berlin. Er hat einen der besten Architekten der Welt für sein großes Berliner Projekt begeistert.
Dieser Text erschien im neuen Wirtschaftsmagazin des Tagesspiegels "Berliner Köpfe", das ab Freitag (30.08.2013) käuflich zu erwerben ist.
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