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Im Juli 2008 stand Rafik Y. in Stuttgart-Stammheim vor Gericht. Er beschimpfte das Gericht und machte aus seiner Haltung keinen Hehl.
© dpa / Marijan Murat

Erschossener Islamist in Berlin-Spandau: Polizisten liefen Rafik Y. ahnungslos ins Messer

Eine Stunde lang konnte sich der Islamist nach Durchschneiden seiner Fußfessel unbehelligt zum Tatort bewegen. Eine Fahndung wurde nicht ausgelöst.

Nach den tödlichen Schüssen auf den bekannten Islamisten Rafik Y. in Spandau wollen die Ermittler die Hintergründe des Vorfalls aufklären. In der Wohnung des 41-Jährigen seien Papiere gefunden worden, die nun ausgewertet würden, sagte Innensenator Frank Henkel (CDU) am Freitag. Der Iraker hatte am Donnerstagvormittag nahe seiner Wohnung im Spandauer Ortsteil Wilhelmstadt an der Ecke Heer- und Pichelsdorfer Straße eine 44 Jahre alte Polizistin mit einem Messer angegriffen, worauf ihr Begleiter die Waffe zog und schoss. Die Polizistin wurde dabei schwer verletzt. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hatte Rafik Y. weder Drogen noch Alkohol im Blut.

Die Vorgeschichte

Der Islamist hat sich in der Vergangenheit äußerst aggressiv verhalten. Seit 2014 bedrohte er mehrfach eine Richterin, Polizisten und Beamte der Ausländerbehörde. Der Iraker wurde deshalb Ende Juni angeklagt, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner. Eine Mitarbeiterin der Ausländerbehörde soll Y. mit den Worten „Wir werden euch köpfen“ bedroht haben. Der 41-Jährige soll dabei auch den Terroranschlag in Paris gerechtfertigt haben. Er drohte persönlich, am Telefon und per Post.

Nach Verbüßung seiner Haftstrafe in der JVA Stammheim kehrte Y. nach Berlin zurück. Er war 2008 vom Oberlandesgericht Stuttgart zu acht Jahren Haft verurteilt worden – wegen Mitgliedschaft in der radikal-islamischen Terrorvereinigung Ansar al-Islam (Helfer des Islam) und der Beteiligung an Plänen für ein Attentat auf den damaligen irakischen Ministerpräsidenten Ijad Allawi 2004 in Berlin. Die Behörden hatten laut Innensenator Frank Henkel versucht, den Mann in den Irak abzuschieben. Dies sei jedoch nicht möglich gewesen. Denn bei einer Rückkehr hätte ihm die Todesstrafe gedroht. Deutsches Recht verbietet in solchen Fällen die Abschiebung.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft von Freitag gibt es bei Rafik Y. „keine Querverbindungen“ zur islamistischen Szene. Am Donnerstag hatte Innensenator Henkel gesagt: „Fakt ist: Der Mann ist Islamist.“ Ob er von einer Gruppe unterstützt werde, müsse ermittelt werden.

Mobil trotz Fußfessel

Y. musste seit seiner Entlassung aus der Haft eine elektronische Fußfessel tragen. Innerhalb von Spandau durfte er sich damit frei bewegen. Zudem musste er sich jeden Montag beim für ihn zuständigen Abschnitt der Polizei melden. Auf Schritt und Tritt bewacht wurde er nicht. Das Bundeskriminalamt hatte ihn als „Gefährder“ eingestuft.

Unklar ist, weshalb sich Y. der Fessel entledigte. Denn mit der elektronischen Überwachung konnte er sich in Spandau ja frei bewegen. So löste Rafik Y. um 8.53 Uhr und 59 Sekunden einen Alarm in der bundesweit für alle Fußfesseln zuständigen „Gemeinsamen Überwachungsstelle der Länder“ (GÜL) in Hessen aus. Schon am 3. Januar hatte Y. die Fessel abgenommen und in den Müll geworfen. In seiner Wohnung an der Zeppelinstraße wartete er dann auf die Polizei – den Beamten soll er gesagt haben, er wolle sehen, wie schnell sie erscheinen. Die Justiz reagierte darauf übrigens mit einer Anzeige wegen Sachbeschädigung, das Gerät hatte einen Wert von 50 Euro. Am Donnerstag riefen die Beamten in Hessen Rafik Y. sofort, um 8.54 Uhr über ein spezielles Mobiltelefon an. Dieses Gespräch dauerte vier Minuten, berichtete René Brosius von der hessischen Justizverwaltung. Jeder Fußfesselträger ist verpflichtet, dieses Telefon, deren Nummer nur die GÜL kennt, ständig mitzuführen. Da Y. am Telefon verwirrt klang, wurde anschließend sofort, um 8.58 Uhr die Berliner Polizei informiert – allerdings wurde ein falscher Name genannt.

Wie die Polizei reagierte

Erst um 9.14 Uhr erhielt die Berliner Polizei einen zweiten Anruf mit dem korrekten Namen. Um 9.32 Uhr wurde dann an eine Funkstreife der Auftrag herausgegeben, zur Wohnung des Islamisten zu fahren. Einen Grund für diese 18-minütige Verzögerung konnte Polizeisprecher Stefan Redlich nicht nennen. Um 9.40 Uhr trafen die Beamten ein. Eine Warnung oder ein Fahndungsersuchen an alle Funkstreifen gab es nicht, ein solcher Automatismus sei nicht vorgesehen, sagte Redlich.

Um 9.48 Uhr ging dann der erste Notruf von der Heerstraße ein, weil ein Mann Passanten mit dem Messer bedrohte. Um 9.53 fuhr die später angegriffene Streife daraufhin los und erreichte kurz darauf den Tatort. Ihre exakte Ankunftszeit ist unklar, weil die Polizisten von Y. unmittelbar attackiert wurden. Normalerweise drücken die Beamten bei ihrer Ankunft am Tatort eine Taste, die den Zeitpunkt registriert, aber dazu kam die Besatzung gar nicht mehr.

Polizistin auf dem Weg der Besserung

Unterm Strich konnte sich Rafik Y. vom Lösen der Fußfessel bis zum Eintreffen der Polizei also rund eine Stunde lang unbehelligt bewegen. Und weil es keine Warnung an alle Funkstreifen gegeben hatte, wussten die zum Tatort fahrenden Polizisten nicht, dass einer der drei Berliner Fußfesselträger seine Fußfessel gelöst hatte. Die Gewerkschaft der Polizei forderte am Freitag Aufklärung über die polizeiinternen Meldewege: „Die Chronologie der Ereignisse muss ausführlich aufgearbeitet werden“, sagte die GdP-Landesvorsitzende Kerstin Philipp.

Wie die Polizei am Freitag mitteilte, sei die Kollegin auf dem Weg der Besserung. Schon Stunden nach der Tat hatte die Polizei getwittert: „Der Zustand unsere Kollegin ist stabil. Sie liegt auf weiter auf der Intensivstation. Wir wünschen Kraft und vollständige Genesung.“ Unsere Kollegin hat eine schwere Verletzung durch die Messerattacke erlitten sowie eine Schussverletzung aus der Waffe ihres Kollegen. Am Freitagnachmittag sagte der Polizeisprecher, dass die Oberkommissarin wohl in einigen Tagen entlassen werde, wenn es keine Komplikationen gebe.

Konsequenzen gefordert

Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, sagte: „Es darf nicht sein, dass ein hochgefährlicher, radikalisierter Mann nur mit einer Fußfessel überwacht wird, diese ohne weiteres entfernen kann und sich frei bewegt.“ Für Wendt heißt die Alternative „Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung“. Fußfesseln seien nur geeignet, um Bewährungsauflagen von Kleinkriminellen zu überwachen. „Für hoch gefährliche Gewalttäter sind sie ungeeignet.“ Der Fall zeige, wie hoch das Risiko durch sogenannte Gefährder ist. „Die Sicherheitskräfte unternehmen alles, um potentielle Täter im Blick zu haben, eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung ist jedoch nicht möglich.“

Zwei Männer tragen noch Fußfesseln

Rafik Y. war der erste Straftäter, der seit März 2013 in der Hauptstadt mit einer elektronischen Fußfessel unterwegs war. Im Dezember 2013 folgte mit Karl S. der erste Berliner Sicherungsverwahrte, der nach der Haft das Gerät tragen musste -–bis Mai 2015. S. war es gelungen, die Fessel wegzuklagen , – weil sie als „unverhältnismäßig“ angesehen wurde. Der Tagesspiegel hatte mehrfach über den Fall berichtet. Zudem gibt es einen zweiten Mann, der die Fessel ablegen durfte.

Nach dem Tod von Rafik Y. tragen laut Justizverwaltung nur noch zwei Männer eine Fußfessel. Wie berichtet, muss sie seit August ein als hochgefährlich eingestufter Sexualtäter tragen.  Der andere Mann ist nach Justizangaben Gewalttäter. Bei einem dritten Mann ist die Fessel bereits angeordnet, er sitzt aber noch in Haft. Bundesweit soll es etwa 80 entlassene Straftäter geben, die alle von einer Zentrale im hessischen Bad Vilbel aus über das System GPS elektronisch überwacht werden. Ha

Der Berliner Verfassungsschutz nennt in seinem Jahresbericht 2014 die Zahl 415 für „Regional gewaltausübende und gewaltbefürwortende islamistische Gruppen“. Die Zahl der Salafisten stieg von 350 im Jahr 2011 auf 650 an. Im Vorwort des Berichts betont Innensenator Henkel, dass vor allem die Zahl der gewaltorientierten Salafisten gestiegen sei, und zwar von 100 auf 340 in diesem Zeitraum.

Jörn Hasselmann

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