Gefährliche Mischung: Terroralarm mitten in Berlin
Razzien in Wedding und Neukölln – und plötzlich ist ein großes, schreckliches Wort zu hören: Terroralarm. So kurz vor dem 9/11-Jahrestag, den Berlin-Wahlen, dem Papstbesuch. Die Geschichte hinter dem Wort ist zwar eine Nummer kleiner. Aber nicht harmlos.
Die Tromsöer Straße im Berliner Stadtteil Wedding ist keine feine Adresse. Sie liegt in einem alten Industriegebiet, die Häuser sind mit Backstein verkleidet, vereinzelt sind darin noch Schussspuren aus dem Krieg zu erkennen. Hier haben sich Kleingewerbe und Künstler eingerichtet, ein indisch-pakistanischer Lebensmittelmarkt und eine Moschee. Am Eingang sind auf einem Schild kunstvoll geschwungene, arabische Buchstaben zu sehen und die Inschrift „IKRA – Islamisches Kulturzentrum für religiöse Aufklärung e.V.“ Auf einem anderen Schild steht zudem „Ar-Rahman-Moschee 2. OG“.
Es ist ein schläfriger Donnerstagmorgen, nur wenige Leute sind unterwegs, als plötzlich Martinshörner ertönen. Um zehn Uhr zehn biegt eine Kolonne Polizeitransporter in die Tromsöer Straße ein. Die etwa ein Dutzend Fahrzeuge rauschen an dem kleinen Platz mit dem Imbiss vorbei, auf dessen Speisekarte „Chicken Nuggets halal“ angeboten werden, islamisch korrekt zubereitete Hühnerhappen. Beamte in Kampfkleidung springen aus den Fahrzeugen und stürmen in den Eingang mit dem IKRA-Schild. Andere Polizisten sperren die Straße mit rot-weißem Flatterband ab, Passanten bleiben stehen und blicken erstaunt. Nach und nach kommen auch Fotografen und Kamerateams, sie dürfen unter dem Flatterband durchschlüpfen, und plötzlich ist ein großes, schreckliches Wort überall zu hören: Terroralarm. Mitten in Berlin. Und das so kurz vor dem zehnten Jahrestag von 9/11. Und zehn Tage vor den Berliner Wahlen. Und zwei Wochen vor dem Besuch des Papstes. Die Geschichte hinter dem Wort ist zwar eine Nummer kleiner. Harmlos ist sie jedoch nicht.
In der Moschee haben sich häufig zwei junge Islamisten getroffen, denen die Staatsanwaltschaft vorwirft, sie hätten eine Bombe bauen wollen. Die Räume des islamischen Kulturzentrums wurden nur durchsucht, weil sich die beiden Beschuldigten dort mehrmals aufgehalten haben. Es werde nicht gegen den Verein oder dessen Vorstand ermittelt, hieß es aus Sicherheitskreisen. Die beiden jungen Männer sind Samir M., ein 24 Jahre alter, aus dem Libanon stammender Deutscher, und der vier Jahre ältere Hani N., der aus dem Gaza-Streifen in die Bundesrepublik kam und in der Neuköllner High-Deck-Siedlung wohnt – wo am Donnerstagmorgen ebenfalls ein Großeinsatz der Polizei stattfand.
Lesen Sie weiter auf Seite 2: Wie weit waren die Tatverdächtigen von einem Anschlag entfernt?
Die beiden Männer sollen geplant haben, aus dem Gel von Kühlpads für Sportler und Schwefelsäure Sprengstoff zusammenzurühren. Die Polizei bekam im Frühsommer einen Tipp. Und sie fand heraus, dass ungewöhnliche Mengen Kühlpads bei einer Firma in Baden-Württemberg bestellt wurden. Wer den Tipp gab, bleibt geheim. Jedenfalls hätten das Unternehmen und Verfassungsschützer eine Rolle gespielt. Die Ermittlungen laufen noch. Die Suche nach Hintermännern geht weiter.
Die reale Gefahr war offenbar nicht so groß. Die Bundesanwaltschaft, fast immer für Terrorgeschichten zuständig, hält sich aus diesem Fall heraus. Eine Verbindung zu Al Qaida oder einer anderen Terrorgruppe ist nicht zu erkennen. Aber Polizei und Staatsanwaltschaft in Berlin konnten nicht ausschließen, dass der als hitzköpfiger Islamist geltende Samir M. und sein Freund Hani N. in Kürze loslegen wollten. Die Sicherheitsbehörden entschieden: zuschlagen statt abwarten.
Auch wenn es fraglich ist, ob die am Donnerstag entdeckten Chemikalien reichen, um einen Haftbefehl zu erwirken. Möglicherweise kommen die beiden Männer schon in der Nacht zu Sonnabend wieder frei.
Den Berliner Behörden ist nicht fremd, dass Ermittlungen gegen Terrorverdächtige einen Balanceakt bedeuten können. Wartet man ab, bis die Beweise gerichtsfest erscheinen, oder zieht man Verdächtige aus dem Verkehr, bevor sie Unheil anrichten – ihnen dann aber nur wenig nachzuweisen ist?
In der Berliner Antwort auf diese Frage hallt auch die Warnung vor Anschlägen nach, die im November 2010 der damalige, sonst eher leise Bundesinnenminister Thomas de Maizière der Öffentlichkeit kundtat. Auch wenn de Maizière kaum Details nannte, kam schnell heraus, dass die Behörden einen islamistischen Angriff nach dem Muster des Blutbads von Mumbai befürchteten. Obwohl dann nichts passierte, steckt die Warnung vom November den Berliner Behörden noch in den Knochen. Und vermutlich noch so lange, wie es Al Qaida gibt.
Nach dem Einsatz in der Moschee wurde Samir M. am Mittag in der Kreuzberger Urbanstraße festgenommen. Den Reißverschluss seiner Kapuzenjacke hatte er bis oben hin zugezogen, so dass niemand sein Gesicht sehen konnte. Ein schmaler Mann, das war das Einzige, was zu erkennen war.
Ganz anders Hani N., 28, Deutscher libanesischer Herkunft, der andere Mann. Er ist ein Schwergewicht. Hani N. ist Medizinstudent, lebt mit Frau und Zwillingen in der Neuköllner High-Deck-Siedlung. Ebenfalls gegen zehn Uhr sind am Donnerstag auch SEK-Teams in der dortigen Heinrich-Schlusnus-Straße im Einsatz.
Lesen Sie weiter auf Seite 3: Nachbarn sind schockiert
Die Männer, die in Transporter und Mittelklassewagen steigen, tragen schwarze Masken und schauen ernst, als sie wieder zurück in Richtung Sonnenallee fahren. Kurz zuvor haben sie Hani N. auf dem Weg in seine Wohnung festgenommen. Danach sind sie mit ihm in seine Wohnung gegangen, die sich ganz oben in einem Wohnblock in der High-Deck-Siedlung befindet.
In seiner Wohnung suchen weitere Beamte nach Beweisen, dass der 28-Jährige einen Terroranschlag mit einer Bombe plante, die er aus Chemikalien bauen wollte. Die Vorhänge an den Fenstern der Wohnung sind zugezogen. Vor dem Balkon hat die Polizei zusätzlich ein buntes, altes Laken gespannt – offenbar, damit niemand von den zahlreichen Medienvertretern es schafft, von einem anderen Balkon dort hinein zu fotografieren.
Vor dem Haus parken zwei große Transporter der Sprengstoffexperten, ein Sanitätsfahrzeug und in den Seitenstraßen mehrere Fahrzeuge der Bereitschaftspolizei. Der Hauseingang wird von Bereitschaftspolizisten bewacht. Binnen weniger Minuten haben sich Anwohner aus der 70er-Jahre-Siedlung vor dem Haus versammelt und schauen, wie Polizisten in den Wohnblock ein und aus gehen. Andere stehen auf ihren Balkonen oder am offenen Fenster, sie tragen Jacken, weil der Wind so kalt durch die Häuserschluchten pfeift. Schnell hat es die Runde gemacht unter den Anwohnern, dass die Polizei hier die Wohnung eines Terrorverdächtigen durchsucht. Zwangsläufig fallen die Worte „Islamismus“, „Bombenbauer“ und „Schläfer“.
„Ich bin richtig schockiert, dass so jemand direkt in der Nachbarschaft lebt“, sagt eine junge Frau in die Runde. Eine 46-jährige Deutsche in Badeschlappen, mit schwarzem Gewand und Kurzhaarfrisur, die mit einem Libanesen verheiratet ist und „selbst nach dem Islam lebt“, wie sie mehrmals betont, ergreift das Wort: „Ich kann so etwas nicht akzeptieren. Alle gleich ausweisen, bin ich der Meinung“, schimpft sie. Eine andere Frau nickt. „Du lebst hier mit jemandem Tür an Tür und kriegst nicht mit, dass der uns womöglich alle in die Luft sprengen wollte.“ Die Frauen erzählen vom Leben in der Siedlung, das vor allem geprägt sei durch Perspektivlosigkeit. Seit Jahren gelten die Hochhäuser, die mal modern waren, als „Problemzone“: ein hoher Ausländeranteil, Vandalismus, Arbeitslosigkeit. Mindestens die Hälfte der Bewohnerschaft lebt laut Quartiersmanagement von Transfereinkommen. „Ganz, ganz schlimm ist das hier“, sagt die Bewohnerin in Badelatschen. Ein anderer Bewohner fügt hinzu, es sei dreckig, laut und keiner kümmere sich um irgendwelche Regeln. Die Gruppe der Anwohner rätselt, welcher ihrer Nachbarn „der Terrorist“ sein könnte. Doch keiner weiß genau, wer dort oben, im obersten Stockwerk lebt.
Dann öffnet sich plötzlich die Tür zum Hausflur: Drei Polizistinnen, zwei in Uniform und eine von ihnen mit einer Polizeiwarnweste, begleiten eine mit Kopftuch verhüllte Frau aus dem Haus. Die Frau schiebt einen Zwillings-Buggy, in dem zwei Kleinkinder sitzen. Gemeinsam verschwinden die Beamtinnen und die Frau mit den Kindern in den Wohnblock nebenan. Die Ehefrau von Hani N. mit den Kindern.
Am Nachmittag dann bekommt die Polizei eine Lieferung: Beamte schleppen zusammengefaltete Umzugskisten in das Haus: Ein Polizeisprecher bestätigt später, dass Papiere sichergestellt wurden und „Flüssigkeiten“. Mehr dazu konnte er nicht sagen. „Die Flüssigkeiten müssen erst einmal untersucht werden.“
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