Justizvollzug: Gefangene sitzen, bis sie grau werden
Berlins Häftlinge werden immer älter, doch die Justizvollzugsanstalten sind nicht für die Bedürfnisse von Senioren ausgestattet.
Die Gesellschaft altert, und die Gefangenen auch. Durch die demografische Entwicklung steigt in den Berliner Justizvollzugsanstalten die Zahl älterer Häftlinge deutlich an. Am Donnerstag wurde, wie berichtet, ein 75-Jähriger zu sieben Jahren Haft und anschließender Sicherheitsverwahrung (SV) verurteilt. Wenn Heinz B. noch einmal frei kommen sollte, dann mit etwa 85 bis 90 Jahren, je nachdem, wie lange er nach der Haft in SV sitzt. Und B. ist kein Einzelfall. Der älteste Berliner Gefangene ist derzeit 82 Jahre alt. Horst D. war 2005 zu zehn Jahren wegen mehrerer Sprengstoffattentate auf einen Arzt und ein Autohaus verurteilt worden. Seit langem krank ist auch der 75-jährige Klaus A., der seit Juni 1993 in Tegel einsitzt, mittlerweile in SV. Häftlinge berichten, dass viele ältere Mitgefangene nur noch in der Zelle apathisch auf dem Bett liegen und fernsehen. Bereits vor einem Jahr hatte der grüne Rechtspolitiker Dirk Behrendt nach einem Besuch berichtet, dass A. hinfällig sei und nur „verwahrt“ werde.
Die Justizverwaltung überlegt nun, wie sie künftig mit immer älter werdenden Gefangenen besser umgehen kann. In Baden-Württemberg gibt es seit vielen Jahren ein eigenes Gefängnis für Rentner, die Justizvollzugsanstalt (JVA) Singen ist nach Angaben der dortigen Justizverwaltung ausgelastet. Das Durchschnittsalter liegt in Singen bei 68 Jahren, der älteste Gefangene ist 80 Jahre alt. Der Justizminister des Landes, Ulrich Goll (FDP), hatte kürzlich mitgeteilt, dass die Erfahrungen äußerst positiv seien. „Ich bin überzeugt, dass das Erfolgsmodell Singen Nachahmer finden wird“, sagte der Minister. Ob jedoch auch Berlin ein eigenes Gefängnis baut oder in einem bestehenden eine Abteilung umbaut, ist nach Angaben der Justizverwaltung noch unklar. Kapazitäten für eine Rentnerabteilung wird es in Berlin frühestens 2012 geben, wenn das neue Großgefängnis „Heidering“ für 650 Männer im brandenburgischen Großbeeren fertig sein wird. Der grüne Abgeordnete Benedikt Lux hat nun vorgeschlagen, in der JVA Charlottenburg ein Haus nur für Ältere einzurichten. Dort gebe es mehr Grün und bessere Bedingungen.
Schwierig ist bei Älteren vor allem die medizinische Versorgung. So liegt der älteste Berliner Gefangene nach einem Herzinfarkt seit Wochen im Krankenhaus. Horst D. wurde von der Feuerwehr als Notfall in eine Klinik gebracht. Am Freitagabend musste die Feuerwehr den 68-jährigen Alfred I. bewusstlos in eine Klinik bringen. Doch die meisten Kranken werden von der Justiz ins Haftkrankenhaus gebracht – und das kostet Zeit und Personal, das dann an anderer Stelle fehlt. Und die gesetzlich vorgeschrieben Resozialisierung muss für Alte anders aussehen: „Statt einer Berufs- oder Schulausbildung vermitteln wir den Kontakt zu Seniorensportgruppen oder Altentagesstätten“, sagte die stellvertretende Leiterin des Frauengefängnisses, Claudia Köhler.
Doch für die drängendsten Probleme älterer Häftlinge fehlen oft Lösungen: Etwa wenn ein 75-Jähriger nicht mehr in die obere Etage des Doppelstockbettes hineinkommt. Oder weil er mit der Gehhilfe oder dem Rollstuhl nicht mehr die Treppen bewältigen kann. Schlagzeilen hatte vor zwei Jahren der Tod des 56-jährigen Eberhard Reichert in Tegel gemacht. Reichert hatte zuvor mehrfach auch die Justizsenatorin auf seine verzweifelte Lage hingewiesen und ein Gnadengesuch gestellt – vergeblich. „Die Gefangenen bleiben in Haft, bis sie sterben“, hatte Reicherts Anwalt danach der Justiz vorgeworfen.
Tatsächlich sind Alter oder Krankheit keine Entlassungsgründe. Das Gesetz sieht im äußersten Fall nur die Verlegung in ein „normales“ Krankenhaus vor, wenn die Behandlung im Gefängnis oder im Haftkrankenhaus nicht möglich ist. Einige Wissenschaftler und Juristen fordern jedoch, „Alter“ wie „seelische Störungen“ in den gesetzlichen Katalog der Schuldunfähigkeit aufzunehmen.
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