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Neue Kultur. Mit dem Einzug der 15-köpfigen Piratenfraktion hat sich im Abgeordnetenhaus der Ton geändert.
© dapd

Landespolitik: Politiker streiten um den richtigen Ton

Im Berliner Abgeordnetenhaus häufen sich die Klagen über rüde Sitten und verbale Entgleisungen vor allem bei den Piraten. Die verteidigen ihre Wortwahl und kritisieren die „Scheinhöflichkeit“ der etablierten Parteien.

Schlechte Stimmung im Abgeordnetenhaus: Viele Parlamentarier registrieren seit Beginn dieser Legislaturperiode einen „latenten Sittenverfall“, wie der stellvertretende Parlamentspräsident Andreas Gram (CDU) sagt. Torsten Schneider, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, beklagt in einem Schreiben an die Geschäftsführer der anderen Fraktionen die „besorgniserregende Verrohung parlamentarischer Umgangsformen“ und die „mehrfach gerügte Fäkalsprache“ im Plenarsaal. Darüber wollen die Geschäftsführer in ihrer nächsten Runde sprechen. Auch der Ältestenrat will sich mit dem Thema auf seiner Sitzung in zwei Wochen befassen.

Piraten wollen weiter „Scheiße“ sagen dürfen

CDU-Politiker Gram ist seit 21 Jahren Abgeordneter in Berlin. „Auch das Parlament konnte sich einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in Richtung Banalität nicht entziehen“, sagt er. Beleidigungen oder Ausdrücke wie „Scheiße“, werde das Parlament nicht ohne Rügen durchgehen lassen. „Intellektuell aufrüsten, verbal abrüsten“, fordert Gram.

Uwe Doering, parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion und seit 16 Jahren Mitglied des Abgeordnetenhauses, beklagt, dass es in den Ausschüssen und im Plenum in letzter Zeit „immer unruhiger und rücksichtsloser“ zugehe. Das reiche vom „barschen“ Umgangston, den er vor allem der Regierungskoalition gegenüber der Opposition attestiert, bis hin zu verbalen Entgleisungen bei einigen Politikneulingen. „Mit den Piraten ist die Fäkalsprache ins Parlament eingezogen“, sagt er. Martin Delius, Geschäftsführer der Piraten, weist die Kritik zurück. Man dürfe in einem Parlament schon mal „Scheiße“ sagen. Das werfe noch lange kein schlechtes Licht auf das Parlament. Delius beklagt die „parlamentarische Scheinhöflichkeit einer politischen Zunft in der Vergangenheit“. Er gesteht aber ein, dass „wir lernen, uns etwas sensibler auszudrücken“. Piraten seien keine „Lotterlinge“, die Regeln der allgemeinen Höflichkeit seien den Fraktionsmitgliedern bekannt. Den Brief des SPD-Abgeordneten Schneider hält er für „überzogen“. Pirat Claus-Gerwald Brunner sagt, er sei gewählt worden, um der „großen Koalition konstruktiv in den Arsch zu treten“. Zu diesen Worten stehe er.

Momper fühlt sich an ein Schülerparlament erinnert

Die Grünen wollen sich nicht zu „Sittenwächtern aufspielen“, wie der parlamentarische Geschäftsführer Benedikt Lux sagt. Fäkalwörter seien „unschön“, aber nicht alles, „was Umgangssprache ist, ist schlecht“. Der Ton im Parlament sei rauer geworden, konstatiert auch Lux, Parlamentsmitglied seit 2006. Das liege aber nicht an den Piraten, sondern am Umgang der Koalition mit der Opposition. Er befürchtet eine „Entparlamentarisierung des Parlaments“. Seine Parteifreundin Anja Schillhaneck ist stellvertretende Parlamentspräsidentin und fragt kritisch, wie sehr sich das Parlament als „Ort der politischen Debatte“ ernst nimmt.

Der langjährige Berliner Parlamentspräsident Walter Momper (SPD) sieht in den verbalen Entgleisungen gerade von Piraten-Politikern eine „Missachtung des Parlaments“, wie er sagt. Deren „mangelnde Ernsthaftigkeit“ erinnere ihn an ein „Schülerparlament“, sagt Momper, der von 1975 bis 2011 mit kurzer Unterbrechung im Abgeordnetenhaus saß, die letzten zehn Jahre davon als Präsident: „So eine Fäkalsprache habe ich in 33 Parlamentsjahren nicht erlebt.“ Und wenn in früheren Jahren, wie im Bundestag, mal Abgeordnete wie Herbert Wehner Kontrahenten als „Übelkrähe“ beschimpften oder Joschka Fischer zum Bundestagsvizepräsidenten sagte: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“, dann sei das „zu Recht gerügt“ worden. Zwar habe es auch im Berliner Landesparlament auch früher wiederholt politische Beleidigungen gegeben, vor allem Nazi- und Stalinistenvergleiche, sagt Momper. Aber in den meisten Fällen hätten sich die Politiker hinterher für ihre Ausfälle entschuldigt. Mit den Piraten sieht Momper eine „andere Qualität“ der Verbalattacken. Sollten sich solche Ausfälle wiederholen, hält Momper den Ausschluss von Politikern von Sitzungen für sinnvoll.

Der Sozialwissenschaftler Ulrich Sollmann, der als Coach arbeitet und Fachmann für das Kommunikationsverhalten von Politikern ist, findet es normal, dass sich mit dem Einzug neuer Gruppen ins Parlament das Sprachverhalten ändert. „Da kommen wie einst beim Einzug der Grünen andere politische und emotionale Milieus zum Tragen“, sagt er. Und wenn zum Beispiel die Piraten eine direktere Sprache pflegen, wirke sich das auf das Sprach- und Denkverhalten in der Politik aus. Mit „gutem Benehmen“ zu argumentieren sei wenig hilfreich. „Stattdessen wird sich die Politik auf ein neues Sprachverhalten einigen müssen – und auch darauf, welche Begriffe man in der Debatte unterlässt“.

Sabine Beikler, Lars von Törne

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