Fraktur! Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit: Politik mit Bart
Von prächtig gelockten Koteletten bis zum jung-dynamischen Schnäuzer: Der Kaiser-Wilhelm-Bart wird zum modischen Leitbild für den patriotischen Herren.
Aufgepasst, liebe Hipster. Der folgende Beitrag könnte euren Retrolook als Denkfigur der Restauration erscheinen lassen, da könnt ihr Kinderwagen schieben und kosmopolitische Brillen tragen, so viel ihr wollt. Woher kommt der Trend zum Verzicht auf die Glattrasur ursprünglich? Sind der kuschelige Vollbart und der schnittige Schnäuzer Ausdruck unbewusster Sehnsucht nach einer untergegangenen Männlichkeit? Wollt ihr insgeheim zurück in die gute alte Kaiserzeit?
Nach der Reichsgründung 1872 avanciert der Kaiser-Wilhelm-Bart zum modischen Symbol für das Bekenntnis zur Nation: Deutsche Männer demonstrieren daraufhin über Jahrzehnte Eintracht in der Barttracht, auch wenn die Mode sich im Lauf der Zeit sichtlich wandelt. Auf dem Bild oben sehen wir die obersten Bartträger der Nation: Kaiser Wilhelm I. – dem der berühmte Bart seinen Namen verdankt – trägt auf dem Porträt seines Hoffotografen von 1884 das Original. Der weiße Schnäuzer wird von einem reich gelockten Backenbart gerahmt. Diese gediegene Pracht des viktorianischen Zeitalters ist aber ein Auslaufmodell, nach seinem Tod 1888 tragen sie nur noch Altherren zur Schau. Das kurze Vollbart-Intermezzo seines Nachfolgers, des 100-Tage-Kaisers Friedrich III., ist dann kaum der Rede wert.
Ein Bart wie ein Reichsadler, der seine Schwingen in die Höhe reckt
Erst Wilhelm II., bei der Thronbesteigung 29 Jahre jung, setzt neue Akzente: Der aufstrebend gezwirbelte Schnauzbart des „Industriekaisers“, aus dem Lockenkorsett wuchernder Koteletten befreit, wird zum modischen Leitbild für eine selbstbewusste Nation, jung, dynamisch, windschnittig. Wie ein Reichsadler, der seine Schwingen in die Höhe reckt, prangt er unter der Nase des Hohenzollernfürsten. Millionen Männer eifern diesem Vorbild nach.
Der Kaiser-Wilhelm-Bart ist mehr als ein Zeichen der Loyalität. Er adelt jeden Untertanen, der ihn trägt, verleiht ihm staatstragende Autorität und verpflichtet zugleich, die Würde des Bartes zu wahren. Jede abschätzige Äußerung darf als Majestätsbeleidigung aufgefasst werden. Heinrich Mann bringt es auf den Punkt. Sein „Untertan“ Diederich Heßling verwahrt sich entschieden dagegen, als Herr „mit dem gefährlichen Schnurrbart“ bezeichnet zu werden – und stellt klar: „Der Schnurrbart wird von Seiner Majestät getragen! (…) Es ist die deutsche Barttracht.“
Auf den Annoncenseiten der Zeitungen wimmelt es von Produkten zur Bartpflege, von der „Struwwelin Barttinktur“ bis zur „Dampfbartbinde“: „Durch ihre Anwendung wird selbst der störrigste Schnurrbart zur festen, tagsüber bewahrten Haltung gezwungen.“ Unglücklichen Naturen mit mangelndem Haarwuchs offerieren Firmen eine Vielzahl von Wundermitteln wie „Cavalier“ oder „Plumeyers Manneswürde“: „Kein Schwindel!“, „Bart in drei Tagen“, „Leistung reichsamtlich geprüft“, „50 Mark Buße bei Nichtwirkung schriftlich garantiert“.
Auf solchen Versprechen gedeiht der männliche Fortschrittsoptimismus. Doch der Erste Weltkrieg macht alles eitle Sinnen zunichte. An der Front gefährdet der Wilhelm-Bart das Leben der Soldaten: Beim Anlegen der Gasmasken zum Schutz vor den neuen chemischen Waffen erweist er sich als hinderlich. Die Heeresleitung befiehlt: Der Bart muss ab. Oder die Flügel des Adlers werden gestutzt, vom stolzen Kaiserschnäuzer bewahren sich viele Männer ein klägliches Bürstenbärtchen. Eine Kriegsversehrung ist auch der Stummelbart, der unter der Nase des Gefreiten Adolf Hitler zum Symbol des Unheils wird. Die Lehre der Geschichte: Nie wieder darf von deutschem Boden Politik mit Bart ausgehen!
Alle Beiträge unserer Serie mit Berlin-Bildern aus der Kaiserzeit lesen Sie unter www.tagesspiegel.de/fraktur
Folgen Sie dem Autor auf Twitter: