Wandel am Mehringdamm: Plüsch, Trash und neue Nachbarn
Langsam verändert sich der Mehringdamm: Nach dem Schwulen Museum verlässt auch das SchwuZ Kreuzberg 61. Ein Streifzug durch einen Kiez, der sich verändert.
Das Zentralorgan der Berliner schwullesbischen Szene, Siegessäule, geizt nicht mit Trauerdramatik: „Der queere Exodus am Mehringdamm erreicht einen neuen Höhepunkt“ – „Die Bombe ist geplatzt“ – das „Exzess-Wohnzimmer im Herzen Kreuzbergs“ ausgeräumt. Nach diesem einführenden Theaterdonner wird in einem exzessiv langen Artikel der Wegzug des Schwulen Museums und des Homo-Clubs SchwuZ aus Kreuzberg 61 beschrieben.
Was ist hier los? Zuletzt war der Mehringdamm in den Schlagzeilen, als der Karstadt-Investor und Kunstmäzen-Spross Nicolas Berggruen die Sarotti-Höfe erwarb und damit indirekt auch den schriftstellernden Altbau-Mieter Jan Peter Bremer. Der schrieb seine sanierungsbedingten Zukunftsängste nieder und landete einen Bucherfolg.
Am Mehringdamm weist die Mietenspirale nach oben. Investoren kaufen jedes Haus, dessen sie habhaft werden können. Im Schlepptau der in jedem Reiseführer erwähnten Bergmannstraße hat sich auch die extrabreite sechsspurige Ausfallstraße aus dem Stadtzentrum nach Süden zu einer attraktiven Touristenverweilzone entwickelt, trotz des dichten Verkehrs. Blendet man den Krach aus, ist der Mehringdamm ein vielseitiger, kaum durch Bausünden verschandelter Großstadtboulevard mit einem reichen Geschäfts- und Nachtleben.
Warum also ziehen SchwuZ und Schwules Museum weg?
„Unsere Räume waren in schlechter Verfassung“, sagt der Geschäftsführer des Museums, Karl-Heinz Steinle. Außerdem platzte das Museum aus allen Nähten. Man habe eine andere, geeignetere Immobilie am Mehringdamm im Blick gehabt, doch während der Verhandlungen wechselte der Eigentümer. Der neue Investor habe erklärt, das Museum passe nicht ins Portfolio. Nun zieht das Museum an die Lützowstraße in Tiergarten, dort residiert man im Vorderhaus zu weitaus günstigeren Mietbedingungen, am 17. Mai ist Eröffnung mit Festakt und Regierendem Bürgermeister.
Beim SchwuZ verlief es ähnlich. Die Kellerräume hinter dem Cafe Melitta Sundström waren längst zu klein geworden, der erfolgreiche Club suchte einen größeren Standort und fand ihn in der ehemaligen Kindl-Brauerei im Neuköllner Rollbergkiez – im Herbst ist Umzug. „Dort zahlen wir zwei Drittel weniger“, sagt SchwuZ-Geschäftsführer Marcel Weber. Das erleichterte die Trennung von der schwullesbischen Infrastruktur am Mehringdamm. Dort gibt es noch eine Handvoll weitere Bars und Cafés, die ursprünglich vornehmlich von Homosexuellen frequentiert wurden, das Publikum mischt sich hier jedoch zunehmend.
Der Mehringdamm wird den Wegzug verkraften, da sind sich die anderen Barbetreiber sicher. Aber was ist mit der Gentrifizierung, dem Prenzlauer-Berg-Syndrom, der eine Monostruktur aus Bioläden, Designerrestaurants und Luxuslofts befördert? Das Café do Brasil, seit 2001 am westlichen Mehringdamm angesiedelt, hat geschlossen, das Lokal steht leer. „Die Miete wurde fast verdoppelt“, sagt Inhaber Thomas Kleindienst, von 23 auf 40 Euro pro Quadratmeter, da habe er die Segel gestrichen. In der Bergmannstraße sollen Kneipenmieten innerhalb weniger Jahre verzehnfacht worden sein. Das strahlt aus. Weiter südlich hat das Ø aufgemacht, ein Gourmetschuppen des Ex-Borchardt-Kochs Markus Herbicht. Auch Sänger Herbert Grönemeyer soll mit im Boot sein. Das Ø will vom subversiven Image Kreuzbergs jenseits von „Ordnung und Gelecktheit“ profitieren. So was wirkt ungemein anziehend.
Der Wirt der Destille freut sich über die neuen Gäste
Zu den Urgewächsen der Gegend zählt die Destille, eine dunkle, holzvertäfelte, mit Nippes und Werbeschildern ausstaffierte Alt-Berliner Stammgastkneipe. Helmut und Ewald sitzen vor Bier und Kaffee, zwei zufriedene Rentner, die nichts auf ihren Kiez kommen lassen, Touristen hin oder her. „Vor zehn Jahren war hier noch tote Hose“, sagt Ewald, nun sei es eben multikulturell und ein wenig belebter, „das stört aber nicht“. Auch Kellner Roody hat nach eigener Aussage viel Spaß am partyrauschenden Mehringdamm. Wegen der vielen Hostels in der Umgebung habe sich das Publikum sehr verjüngt. Roody zeigt Fotos vom Champions-League-Spiel Bayern München gegen Barcelona. 200 Leute saßen und standen vor der kleinen Kneipe. Früher war so was undenkbar.
Steigende Mieten? Roody schüttelt den Kopf. Ärger mit den Nachbarn? „Da achten wir auch drauf: keine Boxen draußen, kein Gegröle.“ Lärmig ist es sowieso wegen der Autos, da schläft niemand nach vorne raus bei offenem Fenster.
Multikulturell geht es tatsächlich zu am Mehringdamm. Jedes Restaurant hat einen anderen Stil, jede Küche eine andere Herkunft, jede Bar einen individuellen selbstgezimmerten Charme zwischen Plüsch und Trash. In den denkmalgeschützten Höfen wimmelt es von kleinen Betrieben und Dienstleistern. Wohnen, Arbeiten, Amüsieren – alles direkt an B 96 und U 6. Ein Faszinosum Berliner Prägung. Der internationale Erfolg dieser quirligen Mischung ist auch an den stets überlaufenen Imbissbuden Curry 36 und Mustafas Gemüse- Kebab abzulesen.
Es soll an der Ecke Yorckstraße mal einen Burger King gegeben haben, doch der ist längst verschwunden. Nicht eine einzige Restaurantkette hat den Sprung auf den Mehringdamm geschafft. Kein Starbucks, kein Dunkin Donuts, nur Curry 36. So viel Kreuzberger „Mir san mir“ funktioniert noch.
Ruhe kehrt erst nördlich der U-Bahnstation und südlich der Einmündung Bergmannstraße ein. Der Mehringdamm „est divisa in partes tres“, wie Cäsar formuliert hätte – in drei Teile geteilt. Der dritte, der Aufstieg zum Platz der Luftbrücke, war früher den Anliegern vorbehalten, doch jetzt gibt es eben diesen riesigen Tummelplatz für Ferngucker und Radrennfahrer, das Tempelhofer Feld, und deshalb überlegt Jörg Schlachter von der Barbiebar, mehr auf den Tagbetrieb zu setzen. Wer auf dem Weg zum Feld pausieren möchte, landet in seinem mit Tulpen und Flaschengrün verzierten Trottoirgarten. „Nach mir kommt nix mehr.“
Thomas Loy